Modul 9 | Klassismus
Klassismus
#Klassismus #Habitus #class matters #Klasse #Chancen(un)gerechtigkeit #Bildungschancen- und (Un)Gerechtigkeit #Intersektionalität #Neoliberalismus #Machtkritik
In dieser Lerneinheit ‚Differenzlinie Klassismus im Hinblick auf den Berufsschulalltag‘ wird in den Begriff ‚Klassismus‘ eingeführt. Den Einstieg in die Thematik liefert ein Fallbeispiel. Es folgt eine theoretische Definition und Einordnung des Begriffs Klassismus. Abschließend stehen begleitende Aufgaben sowie weiterführende Literatur zur Verfügung.
- Fallbeispiel
- Theorie
- Aufgabe & Reflexion
- Weitere Informationen
Meine Motivation für diese Arbeit ziehe ich aus zwei Momenten. Das erste liegt in der Zielgruppe selbst. Die Jugendlichen, die mir in meiner Arbeit begegnen, sind widerständig, rebellisch, aufmüpfig, kritisch, begierig, fordernd, zugänglich, witzig, ausdauernd, kreativ, gescheit, anregend, hoffnungsvoll. Obwohl sie ganz und gar nicht die besten Karten für das Leben haben, ist ihnen die Welt nicht wurscht; was in ihr und mit ihnen geschieht, geht sie was etwas an. Sie in ihrer Weltfindungs und -gestaltung zu erleben, ist wunderbar. Das zweite Moment folgt aus meiner eigenen Biografie. Als Kind einer Arbeiterfamilie, für die Bildung immer nur etwas für die anderen war, ist mein erreichter sozialer Status Ergebnis schieren Glücks. Gleichzeitig kann ich mich an den Augenblick erinnern, in dem ich mit Bildung in Resonanz getreten bin.
Ich habe in meiner Unterrichtstätigkeit einerseits erkannt, dass es nicht „Intelligenz“ ist, die darüber entscheidet, welcher Bildungsweg eingeschlagen werden kann und wird, sondern im Wesentlichen die soziale Herkunft. Wenn mensch aus keinem akademischen Haushalt kommt, in dem ein höherer Bildungsweg mitunter selbstverständlich ist, ist vor allem Glück ausschlaggebend für eine erfolgreiche Bildungsbiografie. Andererseits habe ich erkannt, dass Bildung unabdingbar für Weltgestaltung ist. Beide Erkenntnisse sind für mich wichtig, um im Sinne einer emanzipatorischen und kritischen Bildung tätig zu sein. (Betina Aumair 2020, S. 222.)
Betina Aumair, von der das Zitat stammt, ist in der außerschulischen Aus- und Weiterbildung für Jugendliche und junge Erwachsenen tätig. Ebenso wie in der außerschulischen Bildungsarbeit gibt es auch in der Berufsschule Vorbehalte und diskriminierende Praktiken gegenüber Jugendlichen aus gesellschaftlich schlechter angesehen sozialen Positionen auch und trotzdem anteilig viel mehr Schüler*innen der Berufsschule aus nicht akademischen Haushalten und Arbeiter*innenfamilien kommen (vgl. Thielen 2014). Die Kleidung, die Sprache, das körperliche Auftreten verraten viel über den gesellschaftlichen Stand einer Person und – wie Aumair beschreibt – gerade für Bildungserfolge ist in Deutschland die soziale Herkunft entscheidend – mehr als tatsächliche Intelligenz oder Fleiß. Damit wie in dem eben genannten Beispiel nicht Glück über schulischen oder beruflichen Erfolg entscheidet, brauchen Pädagog*innen ein Wissen über klassistische Zuschreibungspraktiken und den damit einhergehenden Diskriminierungen und Ausschlussmechanismen. Die folgende Lerneinheit führt in dieses Wissen ein.
… sei es, weil das Mädchen aus der Hartz4-Familie keine Empfehlung für das Gymnasium bekommt. Sei es, weil der Junge aus der Hochhaussiedlung nicht das Selbstbewusstsein aufbringt, das Kindern aus der Villengegend bereits in die Wiege gelegt ist. Es ist ein Unterschied, ob man zwischen Büchern oder vor dem Fernseher aufwächst“ (Deutschlandradiokultur, Frank, Arno 2021).
Diese Unterschiede des Aufwachsens, wie sie sich auf die Gewohnheiten und Selbstverständlichkeiten im Alltag in Individuen einschreiben und auswirken, wurden von dem Soziologen Pierre Bourdieu Ende der 1980er Jahre als die „feinen Unterschiede“ (Bourdieu, 1987/2020) beschrieben. Diese Unterschiede, wie sie sich – mit Bourdieu – im Habitus eines Menschen materialisieren, sind in Alltagspraxen und Institutionen eingeschrieben und strukturieren unser Handeln und unsere Wahrnehmung gleichermaßen: „Der Habitus ist Erzeugungsprinzip objektiv klassifizierbarer Formen von Praxis und (gleichzeitig) Klassifikationssystem (principium divisionis) dieser Formen“ (Bourdieu, 2020, S. 277). Der Habitus ist das Klassenunbewusste (vgl. Andreas Kemper, 2021): er ist automatisiert und wird in den ersten Lebensjahren hergestellt, er strukturiert gesellschaftliche Verhältnisse und verweist Menschen auf bestimmte (Klassen)Positionen.
Klassismus ist eine Ideologie, welche Francis Seek und Brigitte Theißl (2020) in Anlehnung an Kemper und Weinbach (2009) sowie Roßhart (2018) als „Unterdrückungsform, als Abwertung, Ausgrenzung und Marginalisierung entlang von Klasse“ (Seek, Theißl 2020, S. 11) verstehen. Klassismus dient der Aufrechterhaltung von Klassenunterschieden und sichert damit bestehende Machtungleichheitsverhältnisse. Beispielsweise haben von Klassismus betroffene Menschen erhebliche Nachteile auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt, geringere Gesundheits- und Lebenserwartungen und verfügen über weniger Macht, Teilhabe und Geld. Diskriminierung findet aufgrund einer zugeschriebenen Klassenherkunft und -zugehörigkeit aus Armuts- und Arbeiter*innenklassen statt (vgl. ebd. S. 12).
Der Begriff Klassismus wurde in Kämpfen amerikanischer lesbischer Feminist*innen in den 1970er Jahren geprägt. Besonders Schwarze Feminist*innen wie bell hooks (2020) haben schon sehr früh auf Klassenunterschiede und Diskriminierung aufmerksam gemacht und darüber hinaus das Zusammenwirken von unterschiedlichen Kategorien wie Klassismus und Rassismus erforscht (vgl. hooks 2020, Seek 2022). Klassismus meint die Diskriminierung und Unterdrückung von Menschen, denen eine bestimmte soziale Position in der Gesellschaft zugeschrieben wird. Es ist diejenige (Klassen)Position, die wiederholend als bildungsfern, faul, passiv, dumm, kriminell, antriebslos, unkreativ oder etwa ideenlos und orientierungslos beschrieben wird (Seek, 2020). Durch diese Attribute werden Ausschlüsse nicht nur produziert, sondern immer wieder stabilisiert und damit Klassenunterschiede verfestigt und abgesichert. Diese Szenen finden überall im Alltag statt: Auf der Straße, bei der Ärztin, im Klassenzimmer, im Bewerbungsprozess, beim Schulwechsel, in Gesprächen mit Kolleg*innen, Nachbar*innen und Lehrer*innen.
Die Geschlechter- und Klassismusforscherin Francis Seek hat aufgrund ihres Aufwachsens in der sogenannten „Armutsklasse“, Klassismus selbst erlebt. Sie schreibt, lehrt und forscht zu Klassismus und seinen Verwobenheiten in unserer Gegenwart. In einem Radiobeitrag von Deutschlandradiokultur beschreibt Francis Seek wie sich ihr Alltag durch ihre wissenschaftliche Laufbahn und vor allem kürzlich durch den Antritt einer Vertretungsprofessur grundlegend änderte:
„Wenn ich sage, ich vertrete gerade eine Professur, ist es manchmal schwer, überhaupt aus der Arztpraxis wieder rauszukommen. Weil mir dann einfach sehr viele Fragen gestellt werden: Oh, wie haben Sie das denn geschafft? In Ihrem Alter? Das ist ja toll. Man wird dann auch mit Lob überhäuft. Das ist das Gegenteil von dem, was ich aus meiner Jugend und Kindheit kenne, nämlich dass es sehr schwer ist, eine angemessene ärztliche Behandlung zu erfahren, wenn man in Armut lebt. Dann werden auch sehr viel von den gesundheitlichen Problemen immer auf die eigene Lebensweise zurückgeführt. Da wird dann oft der Grund eher bei einem selbst gesucht wird und man bekommt keine gute gesundheitliche Behandlung.“ (Seek, 2020).
Die enge Verzahnung von diskriminierenden und verletzenden Zuschreibungen und tatsächlichen strukturellen Benachteiligungen strukturiert den Alltag von Betroffenen auf verletzende Art und Weise. Zudem beengen diese den Raum der Handlungsmöglichkeiten sowie die Vorstellungen davon, was überhaupt möglich ist. Die Zuschreibung von Außen, dass Armutsbetroffene selbst schuld seien, wenn Sie krank werden und dass sie nicht gut genug auf sich geachtet hätten, ist in der Bundesrepublik Deutschland allgegenwärtig (vgl. Seek, 2021). Durch solche Art von Zuschreibungen wird über die Achse der Armut eine Gruppe konstruiert, deren Individuen zwar höchst unterschiedliche Lebenserfahrungen, Sichtweisen, etc. mitbringen, aber durch die Fremdzuschreibungen vereinheitlicht werden: Als Gruppe der ‚Armen‘ oder auch abwertend als ‚Unterschicht‘. In dieser unfreiwillig ausgesuchten Gruppe erleben Menschen dann Begegnungen wie bei der Ärztin, beim Amt, in der Schule, etc., die sie immer wieder auf ihre Klassenzugehörigkeit zurückwerfen.
Erst durch den Eintritt in eine andere Klasse, beispielsweise durch einen Bildungs- oder Berufsaufstieg oder eine Verbesserung der sozio-ökonomischen Situation, erfahren Menschen ganz andere Begegnungen, Aufmerksamkeiten und Zuwendungen. Dennoch bleibt auch hier meist ein Gefühl der Fremdheit und des Nicht-Dazugehörens: Das Erleben und Wahrnehmen von Menschen durch diese plötzliche und wesentlich respektvollere Andersbehandlung bleibt weiterhin verunsichernd. In Erzählungen und Fachliteratur wird immer wieder von dem so genannten Hochstapler*innen-Gefühl berichtet:
„Selbst wer den Aufstieg aus den bildungsfernen Schichten geschafft hat, […], kommt nur selten wirklich an. Weit verbreitet ist hier das Hochstaplersyndrom – das Gefühl, das bessere Leben nicht wirklich verdient zu haben, und die Furcht, als Emporkömmling entlarvt zu werden“ (Deutschlandradiokultur, Frank, Arno, 2021).
Zuschreibungen wie Arbeitsunwilligkeit, limitierte Fantasie, Einfachheit, Faulheit oder Desinteresse verknüpfen sich mit Vorstellungen der Arbeiterklasse, die vermeintlich über Generationen hinweg nicht lernen kann, sich nicht richtig ausdrücken kann, keine Orientierung hat, usw.
Bildungsabschlüsse, der Vorname, (k)ein Titel, (k)ein Akzent und das entsprechende Sprachregister, der ,richtige‘ Geschmack, der ,richtige‘ Dresscode, all diese Elemente zusammen artikulieren eine bestimmte Klassenzugehörigkeit und materialisieren sich im Alltag auf höchst unterschiedliche und minutiöse Art und Weise.
Zur Klassenzugehörigkeit gehören auch Fragen danach, wer über wie viel soziales Kapital (Vitamin B) verfügt oder wer überhaupt als Partner*in in Frage kommt (vgl. Portale wie ‚Elitepartner.de‘). Klassenzugehörigkeit wird somit auf unterschiedlichen Ebenen sichtbar (siehe oben: Habitus von Bourdieu). Dabei ist der Übergang von einer „niedrigen“ in eine „höhere“ Klasse nur scheinbar durchlässig und die Verhinderung des Eintretens wird kaum wahrnehmbar, aber doch engmaschig abgesichert (vgl. (Bourdieu, [1979] 2020). Sei es durch Distinktionsmerkmale wie ‚Sprache‘ und ‚Kleidung‘ oder auch eben auch durch ‚härtere‘ Währung wie Gebühren, Mieten und Clubmitgliedschaften, durch die vorsortiert wird, wer dazugehört und wer ausgeschlossen bleibt.
Klassismus bezeichnet demnach die systematische Benachteiligung und den Ausschluss aufgrund der Zuschreibung einer sozialen Herkunft und der aktuellen sozialen und ökonomischen Positionen eines Menschen. Die Klassenposition und der gesellschaftliche Erfolg verknüpfen sich miteinander und sorgen dafür, dass Klassenunterschiede sich weiter durchsetzen und trotz zahlreicher Programme und Maßnahmen zur Herstellung von Chancengleichheit letztlich weiter zu ihrem Gegenteil beitragen: der Chancenungleichheit.
„In der allgemeinsten Bedeutung bezeichnet Chancengleichheit die prinzipielle Chance eines Menschen auf Gleichheit in einer von Chancenungleichheit geprägten Gesellschaft. Chancengleichheit beschreibt in modernen Gesellschaften das Recht auf eine gerechte Verteilung von Zugangs- und Lebenschancen“ (Sattler, 2000, S. 59).
Doch wenn jede*r das gleiche Recht haben soll, ihre*seine Persönlichkeit zu entfalten, dann wird das Erreichen und Gelingen von Erfolg am einzelnen Individuum bemessen und bewertet und das Nicht-Gelingen dementsprechend personalisiert und individualisiert. Durch diesen Mechanismus geraten strukturell bedingte Ungleichheiten aus dem Blick und das Nicht-Gelingen bestimmter Etappen sowie das Nicht-Erreichen einer bestimmten sozialen Position wird in der Konsequenz holzschnittartig dem Individuum und seiner individuellen Leistung zugeschrieben. (Wäre hier vielleicht noch interessant das meritokratische Prinzip zu erwähnen?
Höchst problematisch ist hierbei, dass in dieser Erzählung die zentrale Funktion, die dem Leistungsprinzip zukommt, nicht miterzählt wird – obwohl dieses die bis Anfang des 20. Jahrhunderts geltende Ständeordnung ablöste (vgl. Sattler, 2004, S. 59).
Das Leistungsprinzip stellt ein zentrales Merkmal demokratischer neoliberaler Gesellschaften dar und erklärt die oben benannten abwertenden Zuschreibungen.
Leistungsprinzip: Ab dem Zeitalter des Liberalismus‘ wurde „Leistung“ ein zentrales gesellschaftliches Ordnungsprinzip. „Was eine Person besitzt, welche soziale Stellung jemand innehat und welche Karriere sie oder er einschlagen kann, sollte nicht länger durch das ständische Prinzip der Herkunft bestimmt werden und auch nicht durch unveränderliche Merkmale wie Hautfarbe, Alter oder Geschlecht, sondern allein das Ergebnis der eigenen Arbeit und Leistung sein. Mit dem Aufstieg des Bürgertums entstand so das ideelle Modell der „Leistungsgesellschaft“, welches für das ganze Industriezeitalter verbindlich wurde, und das bis heute das Selbstverständnis moderner Nationen prägt.“ (Neckel 2012)
Die Erziehungswissenschaftlerin Elisabeth Sattler verweist auf die lange Geschichte des Rufs nach „Chancengleichheit“, die von Beginn an einen (gesellschafts)politischen Anspruch hatte, „der die Gleichheit der Menschen, eben auch in ihren Chancen forderte“ (Sattler, 2000, S. 61). Sie verweist darauf, dass dieser Forderung von Beginn an, Ungleichheit eingeschrieben war, das heißt: dort wo es um die Herstellung von Chancengleichheit geht, muss es konstitutiv Ungleichheit geben. Konkret bedeutet das, dass jede (bildungs)politische Maßnahme logisch und empirisch auch Ungleichheit zum Zweck hat: „Denn auch ein 100-Meter-Lauf erweist sich nur dann als sinnvoll, wenn nicht alle die gleiche Chance haben zu gewinnen und nicht alle gleichzeitig ankommen. So ist die Forderung nach Chancengleichheit ein Indikator dafür, dass es Ungleichheit gibt und geben soll“ (Sattler, 2000, S. 61).
Dass Letzteres eher verdeckt und nicht miterzählt wird, ist konstitutiv für die Herstellung von Chancengleichheit auf gesamtgesellschaftlicher Ebene und im Besondern mit Bezug auf Bildung. Denn die Herstellung von Chancengleichheit über Bildung kommt eine besondere Bedeutung zu. Erste Versuche durch Bildung Chancengleichheit herzustellen, lassen sich in den 1960er und 1970er Jahren ausmachen: Die Formel „Bildung ist Bürgerrecht“ (Ralf Dahrendorf) zeigt eine demokratiepolitische Wende an, wobei dem Bildungssystem bei der Zuteilung sozialer Chancen eine bedeutende Rolle zugeschrieben wird. Gesellschaftliche (Un)Gleichheit wird als Folge bildungspolitischer Maßnahmen und individueller Bildungspraxen verstanden und interpretiert. Mensch kommt mehr und mehr zu der Erkenntnis, dass die schulische Selektion nicht nur die Bildungschancen, sondern auch die Lebenschancen bestimmt und festlegt (vgl. Sattler, 2004, S. 60). Mit diesen Erkenntnissen wird in den „westlichen“ Industrieländern eine Bildungsreform gestartet, die sich auf die Fahnen geschrieben hat über die Herstellung von Bildungsgerechtigkeit schließlich Chancengleichheit zu erreichen und so zu einer gerechter (empfundenen) Gesellschaft beizutragen.
So sind auch die Bemühungen von Schulen, Lehrkräften, pädagogischen Fachkräften in schulischen wie außerschulischen Zusammenhängen bei der Herstellung von Chancengleichheit über Bildungsgerechtigkeit in diesem Rahmen einzuordnen. Die (öffentliche) Schule kann somit nicht nur als ein Ort der Bildung, sondern ebenso als ein Ort der Herstellung und Absicherung einer als gerecht empfundenen demokratischen Gesellschaft bezeichnet werden.
Demzufolge nimmt Schule einen bedeutenden Teil des Selbstverständnisses einer gerechten demokratischen Ordnung ein und wie oben herauskristalisiert, ist sie eben auch ein ambivalenter Ort, der die Absicherung von Ungleichheit mitträgt und teils auch zum Zweck hat.
Auf der pädagogischen Ebene stellt sich konsequenterweise nicht nur die Frage nach einem individuellen Umgang mit von Klassismus geprägten schulischen Situationen, sondern auch die Frage nach einer möglichen strukturellen Veränderung der Ungleichheiten, welche im Zuge pädagogischen Denkens und Handelns ausgelöst werden. Denn, so Sattler, sei eine der gravierenden Konsequenzen von der bemühten Herstellung von Chancengleichheit über politische Bildungsmaßnahmen, die Appellation der Chancengleichheit an das einzelne Individuum, das ja schließlich jetzt bessere Chancen habe. Scheitern und Versagen ist in dieser Logik dann nicht mehr strukturell bedingt, sondern dem Individuum zuzuschreiben, das seine Chancen doch bitte richtig zu nutzen habe. Doch das dem – auch nach den zahlreichen Bildungsreformen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – nicht so ist, zeige sich daran, dass der Einfluss der sozialen Herkunft auf die Chancen im Bildungssystems und den daran geknüpften möglichen sozialen Aufstieg (der sozialen Platzierungsfunktion) nicht wesentlich abgenommen hat: Schule und Bildungssystem erweisen sich immer noch als Stabilisatoren sozialer Ungleichheit.
Der Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungserfolg ist durch eine Reihe von Studien intensiv erforscht worden. Das Ergebnis ist immer das gleiche: Kinder von Eltern mit Hochschulabschluss haben es deutlich leichter, eine Gymnasialempfehlung zu erhalten, als etwa Kinder aus Arbeiter*innenfamilien. Diese Tendenz setzt sich an der Hochschule fort. (vgl. Kemper, 2021).
Eine Veränderung von ungleichen und unfairen Verhältnissen sieht Seek in einer Verschränkung von systematischer ökonomischer Umverteilung, solidarischem Verhalten aller und gleichzeitiger politischer Bildungsarbeit (vgl., Seek, Theißl, 2o20). Forscher*innen, Aktivist*innen und Bildungsarbeiter*innen wie Seek, Kemper und bell hooks untersuchen Klassismus daher auf verschiedenen Ebenen und fordern zudem eine Analyse der (politischen, privaten und pädagogischen) Wirklichkeit mit anderen Diskriminierungsformen und einer gleichzeitigen Problematisierung von gegenwärtigen Macht- und Herrschaftsverhältnissen.
Klasse als Diskriminierungskategorie, wie sie bestimmte Gedanken, Gefühle, Grenzen und (Un-)Möglichkeiten in Biografien und Lebenssituationen hineinbringt und immer mit anderen Achsen der Benachteiligung und Befähigung zusammenspielt, gilt es näher zu untersuchen und für eine verschränkende Wahrnehmung zu sensibilisieren (vgl. Moser, 2021).
Francis Seek betont die notwendige Thematisierung der Verschränkung von Klassismus mit anderen Differenzlinien wie race, sex/gender und Kultur. Die Zuschreibung „migrantisch-proletarisch“ beispielsweise wurde und wird medial kontinuierlich erzeugt, durch vereindeutigende Aussagen restablisiert und hat direkte Auswirkungen auf die ‚Erfolgschancen‘ von Menschen, die über mehrere Differenzmarker klassifiziert werden.
Klassismus und andere Diskriminierungsformen überlappen und verschränken sich seit jeher. So ist die Existenz dieser Verwobenheiten kein neues Phänomen, allerdings wird es erst in den letzten Jahren verstärkt benannt (unter dem Stichwort Intersektionalität) und vor allem konkret analysiert.
Seek verweist beispielsweise darauf, dass in den letzten Jahren in einer Reihe von Publikationen nachgewiesen wurde, dass soziale Mobilität für bestimmte Gruppen – insbesondere für Arbeiter*innenkinder, Migrant*innen und People of Color – schwerer und unwahrscheinlicher ist. Das gilt selbst bei gleichen oder ähnlichen formalen Voraussetzungen wie Notendurchschnitten, Schulabschlüssen oder Ausbildungen. Mark Thielen (2014) hat in diesem Zusammenhang in einer Berufsvorbereitungsklasse folgende Beobachtung gemacht: Das äußere Erscheinungsbild, das auch etwas über die soziale oder kulturelle Herkunft mitteilt, wird einer Bewertung durch die Lehrperson unterzogen und Anregung gegeben sich ‚anders‘ und ‚angemessener‘ zu kleiden/stylen:
„Der Lehrer nutzt im Unterricht das begonnene Gespräch mit dem Schüler Rafik, um sich mit ihm über dessen Chancen auf einen Praktikumsplatz zu unterhalten. Er weist Rafik darauf hin, dass er ihn angesichts seiner Frisur für schwer vermittelbar halte. Rafik trägt ganz kurz geschorene Haare. Gerade ‚ältere Herren‘ in Betrieben hätten vermutlich Vorbehalte, einen solchen jungen Mann einzustellen und würden vermutlich doch lieber auf einen Mitbewerber zurückgreifen. Erik schaltet sich in das Gespräch ein und meint mit Blick auf die Auswahl nach körperlichen Äußerlichkeiten empört: ‚Das ist doch verboten!‘ Der Lehrer gibt ihm zwar Recht, verweist jedoch darauf, dass dies manche Arbeitgeber dennoch so praktizierten, aber andere Gründe für eine Absage angäben. Erik verschärft daraufhin seine Kritik und meint, dass ein solches Verhalten ‚rassistisch‘ sei. Dies kann der Lehrer nun nicht ganz nachvollziehen. Er erklärt den Jugendlichen, dass sie sich die Haare gestalten könnten, wie sie wollten (‚Ihr könnt die euch von mir aus grün färben!‘), er sie dann aber nicht ins Praktikum vermitteln könne.“ (Beobachtungsprotokoll)
Thielen arbeitet in einer nachfolgenden Analyse der Beobachtung Folgendes heraus: Rafik wird von der Lehrperson durch sein Aussehen und seine ethnische und soziale Herkunft der ‚Unterschicht‘ zugeordnet. Ihm wird empfohlen, sich in seinem Auftreten den Stilvorstellungen der Mittelschicht anzupassen. Durch Eriks Hinweis auf Rassismus, wird hier deutlich, dass neben Klassismus ebenfalls rassistische Stereotype eine Rolle für die Ablehnung von ‚Personen wie Rafik‘ in einigen mittelständigen Unternehmen führen und dass das Zusammentreffen diese Differenzlinien zu weiteren Hindernissen beim Zugang zum Ausbildungs-. Und Arbeitsmarkt führen. Ob es wirklich die einzige Möglichkeit der Lehrperson ist, seine Schüler*innen auf die Arbeitswelt vorzubereiten, indem sie dazu angehalten werden, ihre soziale und kulturelle Herkunft zu kaschieren, ist sehr fragwürdig. Vielmehr ginge es im Sinne einer differenzsensiblen Lehre darum, die Wirkmechanismen von Klassismus und weiterer Differenzkategorien mit den Schüler*innen zu besprechen und mit Ihnen gemeinsam zu überlegen, welche Optionen sie haben, um damit umzugehen und wie Lehrer*innen sie darin auch unterstützen können.
Einleitende Gedanken – Bezug zum Berufsschulalltag:
Was bedeutet das Wissen um Klassismus und seine Verschränkungen zu anderen Differenzlinien wie race, sex/gender, Alter für meine Arbeit als (zukünftige) Berufsschullehrkraft?
Wie wirkt sich dieses Wissen auf mein Denken und Handeln aus? Wie kann ich als Lehrer*in schließlich mit diesem Wissen im Klassenraum handeln?
Recherchieren Sie und erstellen Sie eine Präsentation oder einen etwa einseitigen Aufsatz, der sich mit dem Konzept des Klassismus auseinandersetzt. Beschreiben Sie, was Klassismus ist und wie er sich von anderen Formen der Diskriminierung unterscheidet. Nutzen Sie unbedingt Informationen aus dem eben gelesenen Text und belegen Sie diese .Analysieren Sie konkrete Beispiele von Klassismus in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen wie Bildung, Beschäftigung, Wohnen usw. Untersuchen Sie, wie Klassismus soziale Ungleichheit und strukturelle Benachteiligung beeinflusst. Diskutieren Sie mögliche Lösungsansätze oder Maßnahmen zur Bekämpfung von Klassismus in der Gesellschaft. Stellen Sie dabei sicher, dass Ihre Arbeit auf fundierten Quellen basiert und verschiedene Perspektiven berücksichtigt.
Arbeit mit Fallbeispiel: Suchen Sie in dem Ihnen schulischen Alltag nach einem Beispiel, an dem Sie erläutern könnten, was Klassismus bedeutet. Die Person, der Sie Klassismus erklären, ist ein Lehrer in einer anderen Schulklasse in Ihrem Kollegium. Wählen Sie Ihr Sprachregister entsprechend und nutzen Sie Begriffe wie Diskriminierung, Ausschluss, Klasse, differenzsensibel, Differenzkategorie, Bildungsbiographie. Erläutern Sie jedoch diese Begriffe so, dass sie auch verständlich werden für einen Lehrerkollegen, der sich noch nicht so intensiv mit Diversität und Differenz beschäftigt hat. Es können daher kleine Nebensatzerläuterungen eingefügt werden, um das Verständnis zu erleichtern.
- Aumair, Betina. (2020). Bildung und soziale Ungleichheit: Impulse für eine klassismuskritische außerschulische Bildungsarbeit. In. Seeck, Francis; Theißl, Brigitte. (Hg.).(2020). Solidarisch gegen Klassismus. Münster: Unrast Verlag.
- Bourdieu, Pierre. ([1979] 2020).Die feinen Unterschiede: Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft (23. Aufl. ed.). Frankfurt am Main: Suhrkamp.
- Dahrendorf, Ralf. (1968). Bildung ist Bürgerrecht. Plädoyer für eine aktive Bildungspolitik. Hamburg: –
- Frank, Arno. 2021. (Web- Beitrag). Deutschlandradio Kultur, Ruprik: Identitätspolitik und Klassismus – Sie sagen Klasse, aber sie meinen es nicht so. Gefunden am 11.05.2021 unter: https://www.deutschlandfunkkultur.de/identitaetspolitik-und-klassismus-sie-sagen-klasse-aber-sie.1005.de.html?dram:article_id=497027.
- Kemper, Andreas In. (Web-Beitrag), Deutschlandradio Kultur, Ruprik Zeitfragen: Die verachtete Unterschicht. Gefunden am 11.05.2021 unter: https://www.deutschlandfunkkultur.de/klassismus-die-verachtete-unterschicht.976.de.html?dram:article_id=497048.
- Khakpour, Natascha, Mecheril, Paul. (2018). Klasse oder die Moralisierung des Scheiterns. In. İnci Dirim u.a.: Heterogenität und Bildung. Die Schule der Migrationsgesellschaft. Reihe Bildungswissenschaften. Bad Heilbronn: UTB. S. 133-158.
- Mooser, Geneva. (2021). Klassismus und gemeinsame Ökonomie. Eine autobiographisch Annäherung. In. Solidarisch gegen Klassismus. Münster: Unrast Verlag.
- Neckel, Sighardt (2012). Die Wirklichkeit des Leistungsprinzips: Ansprüche, Krisen, Kritik. In Online: Keynote Heinirich Böll Stiftung. https://www.boell.de/de/2012/07/13/die-wirklichkeit-des-leistungsprinzips-ansprueche-krisen-kritik. [Zugriff 10.05.2022].
- Sattler, Elisabeth (2004). Chancengleichheit. In. Dzierzbicka, A., & Czejkowska, A. (2006). Pädagogisches Glossar der Gegenwart: Von Autonomie bis Wissensmanagement. Wien: Löcker.
- Seek, Francis.(2021).(Web-Beitrag), Deutschlandradio Kultur, Ruprik Zeitfragen: Die verachtete Unterschicht. Gefunden am 11.05.2021 unter: https://www.deutschlandfunkkultur.de/klassismus-die-verachtete-unterschicht.976.de.html?dram:article_id=497048
- Seeck, Francis; Theißl, Brigitte. (Hg.).(2020). Solidarisch gegen Klassismus. Münster: Unrast Verlag.
- Seeck, Francis (2022). Zugang verwehrt. Zürich: Atrium Verlag.
- Thielen, Mark (2014). Der pädagogische Umgang mit herkunfts- und milieubedingter
Differenz im Zuge der Förderung von Ausbildungsreife in der Berufsvorbereitung. In: Sozialer Fortschritt. Vol. 63, No. 4/5. S 96-101.
Einführendes zum Thema Klassismus:
- bell hooks (2020). Die Bedeutung von Klasse. Münster: Unrast.
- Kemper, Andreas, Weinbach, Heike (2009). Klassismus. Eine Einführung. Münster: Unrast.
- Blog, Institut für Klassismusforschung: https://klassismusforschung.wordpress.com/.
- Seeck, Francis (2018). (Web-Artikel). Von #unten und #oben. Wir müssen übers Erben sprechen. Gefunden am 08.05.2021 unter: http://kleinerdrei.org/2018/12/von-unten-und-oben-wir-muessen-uebers-erben-sprechen/ (25.2.2020).
- Reuter, Julia u.a. (Hg.). (2020). Vom Arbeiterkind zur Professur: Sozialer Aufstieg in der Wissenschaft. Autobiographische Notizen und soziobiographische Analysen. Bielefeld: Transcript Verlag.
- Delfs, Stefanie / Kooroshy, Kaveh (2020). Wissenschaftliche Analyse. Corona trifft sozial Benachteiligte härter. www.tagesschau.de/inland/corona-sozial-schwache-101.html (20.6.2020).
- Podcast von Deutschlandradiokultur: https://www.deutschlandfunkkultur.de/identitaetspolitik-und-klassismus-sie-sagen-klasse-aber-sie.1005.de.html?dram:article_id=497027.
- Kurzer Beitrag zu Andreas Kemper, Gunda Werner Insitut: https://www.gwi-boell.de/de/person/andreas-kemper.
- Blog von Francis Seek: Geschlechterforscher*in, Vetretungsprofessorin und AutorinBlog: Antidiskriminierung, Politische Bildung, Forschung https://www.francisseeck.net/.
- Open Access-Publikation: “Care trans_fomieren”: https://www.transcript-verlag.de/author/seeck-francis-320021036/.
Homepages
Studien:
- Bildungsministerium für Bildung und Forschung (BMBF) (2013): Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in Deutschland. Bonn/Berlin: Selbstverlag“
- Lampert, Thomas, Hoebel, Jens / Kroll, Eric Lars (2019). Soziale Unterschiede in der Mortalität und Lebenserwartung in Deutschland. Aktuelle Situation und Trends. In: Journal of Health Monitoring 2019 4(1).
Belletristik:
- Louis, Édouard (2016). Das Ende von Eddy. Frankfurt a. Main: Fischer.
- Eribon, Didier (2016): Rückkehr nach Reims. Berlin: Suhrkamp.
- Baron, Christian (2019). Ein Mann seiner Klasse. Berlin: Ullstein.
- Belletristische Literatur zu und über Klassismus: https://www.tip-berlin.de/kultur/buecher/klassismus-literatur-christian-baron-maria-barankow-julia-friedrichs/.
- https://www1.wdr.de/radio/wdr3/programm/sendungen/wdr3-kulturfeature/wdr3-kulturfeature-klasse-habitus-100.html.
Grundlagenwerke
- bell hooks „Class matters“ auf deutsch 2020 im Unrast Verlag erschienen:
https://unrast-verlag.de/produkt/die-bedeutung-von-klasse/. - Willis, Paul (1977). Learning to Labour. How Working Class Kids Get Working Class Jobs. London: Saxon House.
Einführendes zur Verwobenheit von Klassismus mit anderen Differenzlinien:
- https://kikk-bildungsban.de/2020/04/30/blog/.
- http://ipaed.blogsport.de/materialien/.
- Meulenbelt, Anja (1988). Scheidelinien. Über Sexismus, Rassismus und Klassismus. Reinbek: Rowohlt Verlag.
- https://www.rosalux.de/publikation/id/37578/intersektionalitaet.
- Podcast vom Gunda-Werner-Institut: https://www.gwi-boell.de/de/intersektionalitaet.
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