Modul 13 |
Rechtsextremismus und Radikalisierung
Rechtsextremismus und Radikalisierung
Diese Lerneinheit führt in die Themen Rechtsextremismus und Radikalisierung ein. Angelehnt an einen auch in der Öffentlichkeit diskutierten Vorfall in einer Berufsschule in Halle (Saale) wird zu Beginn des Textes ein Fallbeispiel vorgestellt, anhand dessen deutlich wird, mit welchen Herausforderungen sich Lehrpersonen in diesem Zusammenhang konfrontiert sehen. Die Lerneinheit bietet grundlegende Überlegungen zu den Begriffen Rechtsextremismus und Radikalisierung und macht Angebote zur Erweiterung von Handlungskompetenzen. Im Anschluss an den Text finden Sie die Aufgabenstellungen zu dieser Lehreinheit.
- Einstieg
- Fallbeispiel
- Theorie
- Aufgabe & Reflexion
- Weitere Informationen
Dieser Modultext kann lediglich als eine fragmethafte Einleitung in das komplexe Feld von Rechtsextremismus und Radikalisierung verstanden werden. Vor dem Hintergrund des Erstarkens rechter Narrative in der sogenannten Mitte der Gesellschaft und der Zunahme von Radikalisierung, Übergriffen und tödlichen terroristischen Anschlägen wird diese Lerneinheit den Fokus auf innerdeutsche Prozesse richten und sich mit rechtsextremen Kontinuitäten befassen. Dass Rechtsextremismus und Radikalisierung ein weltweites Problem sind und es beispielsweise zu rechten Bedrohungsallianzen[1] zwischen Gruppen und individuellen Akteur*innen, Parteien und sozialen Bewegungen, nicht zuletzt durch die Vernetzungsmöglichkeiten des Internets kommt, ist unbestritten und bedrohlich. Der begrenzte Raum dieser Lerneinheit kann sich diesen komplexen Zusammenhängen kaum widmen, was nicht bedeutet, dass diese und weitere Themen keine Rolle für Berufsschullehrkräfte spielen. Diese Lerneinheit dient als Einstieg und lädt zur Vertiefung und weiteren Recherchen ein – hierzu finden Sie am Ende der Einheit diverse Hinweise zu Videos, Plattformen, Podcasts, Texten und Weiterbildungs- sowie Beratungsangeboten.
Zunächst starten wir mit einem Fallbeispiel, auf welches zum Ende der Lerneinheit dann noch einmal ausführlicher Bezug genommen wird. Zuvor klären wir, was unter Begriffen wie Rechtsextremismus und Radikalisierung überhaupt verstanden werden kann.
[1] Bedrohungsallianzen sind nach Heitmeyer, Freiheit und Sitzer (2020) Bündnisse unterschiedlicher Gruppierungen, Personen sowie Parteien, welche sich gegen offen Gesellschaftskonzepte und die liberative Demokratie richten.
Oktober 2018, eine Berufsschule in Halle[1]. Der Unterricht hat noch nicht begonnen. Einige Schüler*innen sind bereits im Klassenraum, weitere kommen herein. Die Lehrkraft steht am Pult und sortiert Arbeitsblätter. Ein*e Schüler*in betritt den Raum. Im selben Moment springt Daniel[2] von seinem Sitzplatz im Klassenzimmer auf, dreht sich zur Tür und ruft laut: „Sieg Heil!“ wobei er seinen rechten Arm in Kopfhöhe von sich streckt und in dieser Haltung einige Sekunden verharrt. Alle Gespräche im Klassenzimmer verstummen augenblicklich und die Schüler*innen schauen abwechselnd zu ihrer Lehrperson und zu Daniel, der sich inzwischen wieder auf seinem Platz niedergelassen hat. Die Lehrperson sagt mit fester, ruhiger Stimme: „Das, was du da eben gesagt und gezeigt hast, sind Kennzeichen von verfassungswidrigen Organisationen, die sind verboten. Ich werde jetzt die Polizei informieren und Anzeige gegen dich erstatten. Ich kann und will das hier nicht so stehenlassen! Pack deine Tasche, wir gehen jetzt zur Direktorin.“ Ruhig nimmt er den Stapel mit den Arbeitsblättern, legt sie links und rechts auf die Tische der Schüler*innen. „Ja, ich hatte mir die heutige Unterrichtstunde auch anders vorgestellt, aber so ein Verhalten toleriere ich hier nicht. Bitte fangen Sie mit den ersten Aufgaben schon einmal an. Ich versuche noch eine Vertretungsperson zur Aufsicht zu euch zu schicken. Wir werden morgen noch genug Zeit finden, um über den Vorfall gemeinsam zu sprechen.“ Die Lehrperson geht zu der Person, welcher der Hitlergruß gezeigt wurde, und spricht leise mit ihr. Danach verlässt die Lehrkraft mit Daniel den Klassenraum.
In der Gesellschaft steigen laut Studien (Mitte Studie 2021, Fischer 2018) und Medienberichten rechtsaffine und rechtsextreme Einstellungen. Die Attentate in Halle (2019), Hanau (2020) als auch der Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke (2019) sind die tödliche und sichtbare Spitze eines Eisberges, der bis weit in die Mitte der Gesellschaft und in politische Institutionen reicht.
Auch wenn zwei Drittel der Befragten angeben, Rechtsextremismus als die größte Bedrohung in Deutschland zu empfinden, schützt dies, wie die Studie zeigt, nicht davor, Fragmente dieser Ideologie bewusst oder unbewusst zu übernehmen und somit zu einer Hegemonialisierung rechter Diskurse beizutragen oder „eigene rechte Tradition“, sprich tiefsitzende rechte Praktiken und Auseinandersetzungen fortlaufend zu reproduzieren und fortzuführen (vgl. Küpper; Zick; Rump 2021, S. 79). Berufsschulen, die Teil dieser Gesellschaft sind, sind von dieser Entwicklung nicht ausgeschlossen – und das Fallbeispiel zeigt eine mögliche Erscheinungsform.
Das Sympathisieren mit rechtsextremen Einstellungen und ein Verlauf von Radikalisierung ist nicht einfach festzustellen. Ob die von Daniel im Fallbeispiel beschriebenen Aussagen und Handlungen Ergebnis einer rechtsextremen Ideologisierung sind oder aber ein Ausdruck des Bedürfnisses nach Aufmerksamkeit, kann nicht einfach bestimmt werden. Dennoch gibt es einen rechtlichen Rahmen, mit welchem Überschreitungen – wie in dem Fallbeispiel deutlich geworden – geahndet werden können. In Deutschland sind alle Schulen an die Werte der Demokratie gebunden. Lehrpersonal und das gesamte Schulsystem sind mit der „Vermittlung demokratischer Einstellungen und Kompetenzen“ (May, Heinrich 2021, S. 10) beauftragt. Somit ist es Teil von Professionalisierungsprozessen (angehender) Lehrkräfte, Lehr- und Lernprozesse vor dem Hintergrund dieser Werte zu reflektieren und sich mit demokratiegefährdenden Tendenzen auseinanderzusetzen. Auch wenn dies keine leichte Aufgabe ist, lädt diese Lerneinheit dazu ein, das eigene Wissen zu vertiefen und somit mehr Sicherheit und Handlungsfähigkeit im Klassenraum zu erlangen. Besonders wichtig ist die Erlangung von Handlungskompetenz im Umgang mit rechten Aussagen und Taten im Klassenraum für den Schutz der potentiell geschädigten Schüler*innen. In dem Fallbeispiel weist die Lehrperson zuerst Daniel in die Schranken und klärt ihn sachlich über die Folgen seines Handelns auf, verteilt Arbeitsblätter und wendet sich dann der geschädigten Person zu. Der Fokus der Klasse ist auf die Arbeitsblätter gerichtet, wodurch der*die geschädigte Schüler*in nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht. Das kann sinnvoll sein, damit diese sich nicht noch weiter bloßgestellt fühlen muss. Vielleicht wäre es an dieser Stelle auch möglich gewesen, der*die Schüler*in nach ihren Bedürfnissen zu fragen und Unterstützungsangebote zu machen, wie etwa das Hinzuziehen der Schulsozialarbeiter*in oder einen Termin für ein schnellstmögliches Gespräch. Wie Lehrpersonen die Betroffenen bestmöglich unterstützen können, hängt auch davon ab, ob die Betroffenen sich selbst zu Wehr setzen können/wollen und ihre Stimme als Akt der Selbstermächtigung gegen den Täter erheben oder ob diese angstvoll verstummen. Ein zu starkes Eingreifen übergeht selbstgewählte Strategien und schwächt die Person, indem sie in eine Opferrolle gedrängt wird, ein zu geringes Eingreifen verstärkt hingegen Ohnmacht, Scham und Selbstvorwürfe (vgl. May, Heinrich 2021, S. 125). Langfristig sollten Empowerment-Angebote herangezogen werden, die handlungsbefähigend wirken. Der Schutz des Opfers muss im Zentrum pädagogischen Handelns stehen. Hierzu gehören aktives Zuhören und die „Akzeptanz der Opfererfahrung“ (ebd., S. 135). Aussagen wie, „der hat das bestimmt nicht so gemeint“ sind wenig hilfreich und diskreditieren die gemachte Erfahrung. Der Wille des Opfers ist handlungsleitend für weitere Schritte.
In Bezug auf die Geschichte des Täters Daniel ist uns nicht bekannt, ob dies der erste Vorfall dieser Art war oder Daniel in der Berufsschule bereits mehrfach durch rechtsextreme Aktivitäten aufgefallen ist. Eine Anzeige allein wird also nicht ausreichen, um seine Tat einordnen zu können. Eine Einordnung der Tat, also ob Daniel bereits radikalisiert ist oder es sich nur um eine grenzüberschreitende Provokation handelte, kann aus dem Fallbeispiel nicht beantwortet werden, ist aber für das weitere pädagogische Vorgehen wichtig herauszufinden. Hierzu sollten über die strafrechtliche Verfolgung hinaus Gespräche geführt werden und Präventions- oder, bei vorangeschrittener Radikalisierung, Aussteiger*innenmaßnahmen durch Expert*innen ergriffen werden.
In Bezug auf die gesamte Klasse wäre es denkbar, Unterrichtseinheiten und Projekte im Sinne der Prävention zu initiieren, in deren Rechtsextremismus, Rassismus und Radikalisierung thematisiert werden. Auch eine längerfristige Kooperation mit Beratungs- und Bildungsangeboten im lokalen Netzwerk wäre sinnvoll. Außerdem ist eine bis nach Außen hin sichtbare menschenfreundliche, freiheitliche, demokratische und respektvolle Schulkultur zu pflegen.
Das in den Medien in der Vergangenheit oft verbreitete Bild des extrem Rechten, der ausschließlich kahlgeschoren in Springerstiefeln und Bomberjacke daherkommt, müssen wir dringend überdenken, wenn es überhaupt jemals in dieser Einseitigkeit stimmig war. Rechtsextremismus kann als eine „Erlebniswelt“ verstanden werden, die viele jugendkulturelle Aspekte wie Gemeinschaft, Sport, Musik und Tabubruch abdeckt und identitätsstiftend wirkt. Aus der im Fallbeispiel geschilderte Situation kann nichts über die Hintergründe des Täters abgeleitet werden. Oft bleibt es schwer, Handlungen und Äußerungen von Schüler*innen als rechtsextrem und menschenfeindlich zu verorten und von grenzüberschreitender Provokation ohne ideologischen Rückhalt zu unterscheiden, weil oftmals schlichtweg die Zeit und die Ressourcen fehlen. Wir können als Lehrende dennoch durch kontinuierliche Weiterbildung und Sensibilisierung für das Thema Rechtsextremismus und Radikalisierung dafür sorgen, unseren Blick zu schärfen und die Konfrontation mit diesen Themen im Klassenraum nicht zu scheuen. Aus diesem Grund wollen wir in den nächsten Absätzen vorerst klären, was unter den Begriffen eigentlich verstanden wird um dann zum Ende der Lerneinheit wieder einen Bogen zum Fallbeispiel zu schlagen und in den Aufgaben Anwendungsbezüge herzustellen.
[1] Dieses Fallbeispiel basiert auf einem Vorfall aus dem Jahr 2018, der sich an einer Berufsschule in Halle ereignet hat. Details und der genaue Ablauf sind fiktional (vgl. https://www.spiegel.de/lebenundlernen/schule/hitlergruss-im-klassenraum-laut-staatsanwaltschaft-halle-nicht-strafbar-a-1259035.html).
[2] Anonymisierter Name
Zuerst einmal wollen wir uns den Begriffen Rechtsextremismus, Rechtsradikalismus, Rechtspopulismus, Neonazismus und Neofaschismus annähern, welche oft, so scheint es, synonym genutzt werden und doch Unterschiedliches beschreiben. Danach folgt eine genauere Betrachtung der Begriffe Rechtsextremismus und Radikalisierung. Hierfür wird hauptsächlich Bezug auf das Werk „Rechtsextremismus“ des Sozial- und Politikwissenschaftlers Samuel Salzborn (2020) genommen, welcher neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit auch das Amt des Antisemitismusbeauftragten des Landes Berlin innehat.
Aus einem historischen Betrachtungswinkel sind Begriffe wie Neofaschismus und Neonationalsozialismus immer im Zusammenhang mit Nationalismus und Faschismus zu verstehen. Es handelt sich bei diesen Begriffen „um Selbstbeschreibungen der politischen Bewegungen“ (Salzborn 2020, S. 14) und Parteien. Für Gruppierungen, welche selber oder durch wissenschaftlich Untersuchungen einen direkten positiven Bezug zum Nationalsozialismus und Faschismus haben, werden diese Begriffe auch heute noch verwendet (vgl. ebd.). Rechtsextremismus und Rechtsradikalismus hingegen sind Fremdbezeichnungen. Seit Mitte der 1970er Jahre wird unter anderem durch den Verfassungsschutz der Begriff Rechtsextremismus als Sammelbegriff genutzt. Salzborn (ebd. S. 16) problematisiert, dass in dem Begriff Extremismus ein allgemeiner Extremismus mitgedacht wird, der nicht nur von rechts, „sonders in derselben Weise“ (ebd. Hervorhebung im Original) auch von links ausgeübt werde. Mit Bezug auf den italienischen Demokratietheoretiker Norberto Bobbio (1994) hebt Salzborn hervor, dass links und rechts sich grundlegend unterscheiden (beispielsweise in Bezug auf die Gleichheit von Menschen) und diese Unterschiede durch den Begriff verwischt und unkenntlich gemacht werden. Eine weitere Gefahr ist, dass der Begriff Rechtsextremismus lediglich auf eine kleine Randgruppe der Gesellschaft verweist und „die politische Mitte quasi schon terminologisch von der Mitverantwortung entlaste“ (ebd.). Gerade wegen seiner Definitionsbreite und Uneindeutigkeit können unter dem Begriff Rechtsextremismus gewalttätige Neonazis ebenso gefasst werden wie völkische Gruppierungen. Wichtig ist stets zu beachten, dass auch dieser Begriff nicht statisch ist, sondern sich mit seinen Protagonist*innen immer wieder verändert und sich nicht auf den rechten Rand der Gesellschaft allein bezieht, sondern die Mitte der Gesellschaft mit ihren Abstiegsängsten ein wichtiger Motor rechtsextremer Narrative ist.
Auf gleiche Weise wie Rechtsextremismus wurde der Begriff Rechtsradikalismus seit den 1960er Jahren für die Gleichsetzung von linken und rechten Radikalen politisch genutzt. Rechtsextremismus und Rechtsradikalismus wurden aber vor allem so wichtige Begriffe, weil sie alle Gruppierungen und Personen rechts der Mitte umfassen konnten. Darüber hinaus lassen sich mit diesen Begriffen neuen Strömungen in der Rechten umschreiben, die sich vom Nationalsozialismus strategisch abgrenzen, dabei aber grundlegende Werte rechter Anschauungen behalten (vgl. ebd. Salzborn 2020, S. 16). In einigen Zusammenhängen wird Rechtsradikalismus als weniger „verfassungs- und demokratiefeindlich“ (ebd.) angesehen als Rechtsextremismus. Diese Unterscheidung ist aber dahingehend problematisch, dass es keine scharfe Trennlinie gibt, ab wann eine Handlung oder Äußerung als demokratiefeindlich- und verfassungswidrig eingestuft werden kann.
Der Begriff Rechtspopulismus kann als Unterbegriff des Rechtsextremismus verstanden werden, da „populistische Strategien auf einem rechtsextremen Weltbild fußen“ (ebd. S.17). Ziel ist die Anschlussfähigkeit an aktuelle Debatten und Diskurse, um in diesen als der Anwalt eines homogenen Volkes (womit lediglich weiße, deutsche cis-Personen gemeint sind) gegen die unmoralischen und korrupten Eliten zu polarisieren (Butterwege, Hentges & Wiegel 2018, S. 10). Die als eindeutig verkaufte, polare Teilung in das Volk (Wir) gegen korrupte Eliten und dem völkischen Wir nicht Zugehörigen (die Anderen) ist ein grundlegendes Kriterium des Rechtspopulismus zur Erzeugung von Feindbildern. Durch seinen ausgeprägten Nationalismus werden „die Anderen“, Migrant*innen, Geflüchtete, ethnische, religiöse aber auch sexuelle Minderheiten und andere Gruppen, als nicht dem „Volk“ zugehörig kategorisiert und ausgeschlossen. Populist*innen versuchen in ihrer Agitation rechtsextremes und nazistisches Vokabular wieder salonfähig zu machen und damit zu normalisieren. Der Erfolg rechtspopulistischer Denkweisen hängt auch mit der wachsenden sozialen Ungleichheit, also der stetigen Umverteilung des Reichtums von unten nach oben, zusammen. Sie profilieren sich durch soziale Verunsicherung, etwa durch die Harz IV Reform 2005, die Finanzkrise 2007/2008, die „Flüchtlingskrise“ 2015 und nicht zuletzt durch die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie als Beschützer*innen der sozial Benachteiligten (wobei hier viele Gruppen ausgenommen werden wie Menschen mit Fluchtgeschichte, mit Behinderung, Homo- und Transmenschen und von Armut betroffene Personen). Darüber hinaus inszenieren sie sich in diesem Zusammenhang als Kämpfer*innen gegen ein weltumspannendes Repressionssystem der Eliten (vgl. ebd., S 19-22).
Dass diese Erklärung zu den Begriffen ihren Gebrauch nicht unbedingt vereinfacht, da sie in komplexe politische Machtspiele eingebunden sind und ihre Bedeutung ändern, ist in den vorherigen Abschnitten deutlich geworden. Wie können wir nun mit diesen Begriffen umgehen, die alle ihre Schwächen und problematischen Seiten haben? Dieser Text schlägt, der Rechtsextremismusforschung folgend, vor, Begriffe wie Rechtsextremismus und Radikalisierung dennoch zu verwenden, weil diese dort im „vorläufigen Konsens“ gebraucht werden und Phänomene beschreibbar machen (ebd., S. 18). Wir sollten uns bei der Verwendung jedoch auch über die Komplexität und Uneindeutigkeit der Begriffe im Klaren sein.
Rechtsextremismus
Der Begriff Rechtsextremismus ist ein Oberbegriff für politische Einstellungen, die die Demokratie , die Gleichwertigkeit aller Menschen und die gesellschaftliche Vielfalt ablehnen. Wichtiger Bestandteil dieser Ideologien ist die Orientierung an einer ethnischen Zugehörigkeit. Rechtsextreme teilen die Idee einer „Volksgemeinschaft“, die rassistisch definiert ist. Die eigene Nation wird für höherwertig und überlegen gehalten (Chauvinismus); die repräsentative Demokratie wird abgelehnt.
Zur rechten Ideologie gehören Ablehnung und Gewalt gegen Gruppen, die als nicht in ins Weltbild passend gesehen werden. Formen sind Rassismus, Antisemitismus, Gadjè-Rassismus, Islamfeindlichkeit, Sexismus Homo- und Trans*feindlichkeit sowie Obdachlosen- und Behindertenfeindlichkeit. Weitere Bestandteile sind Sozialdarwinismus und Autoritarismus. Typisch ist außerdem eine Verharmlosung des Nationalsozialismus, ein Geschichtsrevisionismus und ein Hang zu Verschwörungsmythen (vgl. Radikalisierung in der Gesellschaft, S.8).
Wie eben bereits schon deutlich geworden ist, gibt es weder in öffentlichen noch in wissenschaftlichen Debatten einen einheitlichen Gebrauch der unterschiedlichen Bezeichnungen wie Rechtsextremismus, Rechtsradikalisierung und Neonazismus (vgl. Heitmeyer, Freiheit und Sitzer 2020, S. 19).
Dieser Text stützt sich im Folgenden auf Wilhelm Heitmeyers in einer Langzeitstudie entwickelten Erkenntnis, nach welcher die Begrifflichkeit des Rechtsextremismus „eine Ideologie der Ungleichwertigkeit in Verbindung mit Gewaltakzeptanz“ (Heitmeyer 1987 in Heitmeyer, Freiheit und Sitzer 2020, S. 20; Hervorhebungen im Original) ist. Die Ideologie der Ungleichheit kann als der Minimalkonsens aller unterschiedlichen rechten Gruppierungen verstanden werden. Unter dieser menschenfeindlichen Ideologie vereint sich ein nationalistisch-völkisch rassistisches Weltbild, welches von scheinbar natürlichen Hierarchien unter den Menschen ausgeht. An der Spitze verorten Rechtsextremisten weiße männliche Europäer, welche das darwinistisch geprägte Recht des Stärkeren für sich beanspruchen. Dieser Minimalkonsens dient als Legitimationsgrundlage für „personen- wie gruppenbezogene Diskriminierung, Ausgrenzung und Gewalt“ (ebd.). Damit lehnen Rechtsextremist*innen klar das Gleichheitsgebot der Menschenrechtsdeklaration (amnesty international 2019) sowie das Grundgesetz (Deutscher Bundestag 2020) ab:
Artikel 1 Menschenrechte (Freiheit, Gleichheit, Solidarität)
Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Solidarität begegnen.Artikel 2 Menschenrechte (Verbot der Diskriminierung)
Jeder Mensch hat Anspruch auf die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten ohne irgendeinen Unterschied, etwa aufgrund rassistischer Zuschreibungen, nach Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand.Artikel 3 Abs. (3) Grundgesetz
Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.
Gewaltakzeptanz als zweiter Kern der Ideologie gründet sich auf der Annahme eines legitimen Anspruchs auf Gewalt zur Erreichung der verfolgten Ziele (ebd.). Aus dieser Grundhaltung entsteht wiederum eine Ablehnung demokratischer Aushandlungsprozesse zugunsten von Autoritarismus und Militarismus. Im Hinblick auf die Gewaltakzeptanz gibt Salzborn (2020) zu bedenken, dass Heitmeyer nicht definiert, ab wann eine Handlung als gewaltvoll gilt: „schon beim rassistischen und menschenverachtenden Artikel in einer neurechten Postille oder erst bei der Messerattacke eines Skinheads?“ (ebd., S.21). Dass Rechtsextremismus aber immer strukturelle Gewalt bedeutet, darüber sind sich Rechtsextremismusforschende einig (vgl. ebd.).
Nach Richard Stöss (2010) ist Rechtsextremismus anhand zweier Dimensionen sichtbar. Er setzt nicht erst auf einer Handlungsebene an, sondern umfasst ebenso eine Einstellungsebene, welche der Handlungsebene vorrausgeht. Der Beitritt zu einer rechten Partei oder die Teilnahme an einem rechten Protest beispielsweise funktionieren nicht ohne die vorherige Auseinandersetzung mit rechten Einstellungen. Die Handlungs- oder Verhaltensebene umfasst Protest, Provokation, Gewalt und Terrorismus ebenso wie Wahlverhalten und Mitgliedschaften. Die Einstellungsebene umspannt ein komplexes Netz aus völkischem Denken, Biologismen und Kulturalismen, Rassismus, Sexismus, Antisemitismus, Geschichtsrevisionismus, Militarismus und Antirationalismus (vgl. Salzborn 2020, S. 19).
Wo beginnt nun aber Rechtsextremismus? Diese Frage kann nicht eindeutig beantwortet werden, da die Einstellungs- und Verhaltensebene ebenso häufig auseinanderdriften wie Selbst- oder Fremdwahrnehmung. Kaum eine Person oder Organisation bezeichnet sich offen als rechtsextrem, sondern bekleidet sich eher mit Adjektiven wie widerständig, nationalkonservativ oder patriotisch. (vgl. Fielitz; Marcks 2020, S. 10). Rechtsextremismus ist kein Phänomen des Randes, sondern steht in enger Wechselbeziehung zu bürgerlich-konservativen Positionen. Diese enge Verstrickung rechten Denkens in der sogenannten Mitte der Gesellschaft erschwert eine klare Distanzierung und hat Verharmlosungsmechanismen zur Folge (vgl. ebd.).
In der rechtsextremen Ideologie spielen Natur und konstruierte Natürlichkeit eine besondere Rolle und gelten als übergeordnete und übermenschliche Determinanten (ebd. Salzborn 2020, S. 22). So werden etwa die Annahmen der Ungleichheit von Menschen, die „natürliche“ Unterordnung der Frau unter dem Mann und das Recht des Stärkeren als starre Gesetze, die das menschliche Zusammenleben regeln, angesehen. Damit sind rechte Ideologien von Grund auf antiwissenschaftlich, antidemokratisch, menschenfeindlich und quasireligiös.
Der quasireligiöse Glaube an Volk, Nation, Vaterland usw. tritt an die Stelle politischer Programmatiken, denen es um die Diskussion und Durchsetzung von rationalen Zielen geht. Diese Weltanschauung ist in ihrer Substanz irrational. (Jaschke 1994, S. 54 zitiert nach Salzborn 2020, S. 22)
Expert*innen (u.a. Zick 2021, Reinfrank 2021) beobachten mit zunehmender Sorge die Radikalisierungstendenzen und die Anschlussfähigkeit wachsender Teile der Bevölkerung an rechte und demokratiefeindliche Narrative, wie zuletzt sichtbar bei den Protesten gegen die Corona-Maßnahmen. Timo Reinfrak, Geschäftsführer der Amadeu Antonio Stiftung, warnt, dass die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen hier als ein Katalysator für ihre eigentlichen rechtsextremen Ziele eingeordnet werden müssen:
Es geht um eine Ablehnung des demokratischen Systems. Wohin das im Extremfall führen kann, hat der Mord von Idar-Oberstein[1] gezeigt, wo ein junger Mann in einer Tankstelle erschossen wurde, weil er auf die Maskenpflicht hinwies. Es ist zu befürchten, dass aus dem radikalisierten Milieu der Corona-Proteste weitere Gewalttaten verübt werden (Reinfrak 2021).
Eine zentrale Rolle für Radikalisierung spielen soziale Medien und Nachrichtendienste wie Telegram und Facebook. In der Telegram-Chatgruppe „Freie Sachsen“ in der sich weit über 91.000 Verschwörungsanhänger*innen und Corona-Leugner*innen organisieren, hat sich Ende 2021 eine etwa 30 Personen umfassende fackeltragende Gruppe vor dem Privathaus der sächsische Gesundheitsministerin Petra Köpping versammelt, um sie und damit auch die staatliche Institution mit rohen Drohungen und Einschüchterungen an ihrer Arbeit zu hindern (vgl. Kinkartz 2021). Fast zeitgleich wurden Morddrohungen gegen den sächsischen Ministerpräsidenten Kretschmer in einem Telegram-Chat bekannt (DLF 2021), woraufhin Razzien zur Sicherung von Beweismaterialien folgten. Videos und Berichte zu diesen und ähnlichen Übergriffen gingen viral und wurden tausendfach geteilt und in rechten Foren diskutiert. Wie brandgefährlich solche Entwicklungen sind, beweist der Mord an dem Politiker Walter Lübcke aus dem Jahr 2019.
Ab wann können wir von Radikalisierung sprechen und was sind wiederkehrende Merkmale? Nach Andreas Zick (2015), dem Leiter des Instituts für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) an der Universität Bielefeld, kann Radikalisierung unterschiedliche politische, religiöse und soziale Bereiche umfassen. Sie kann individuell aus einer sozialen Isolation heraus oder in Gruppen stattfinden. Allerdings spielen auch bei der Selbstradikalisierung rechtsextreme Netzwerke, etwa im Internet, eine tragende Rolle. Die in den Medien und der Politik immer wieder vorgetragenen Erklärungsansätze über den isolierten Einzeltäter als einsamen Wolf (etwa in der Berichterstattung nach den terroristischen Attentaten von Halle oder Hanau) greift zu kurz. Auch wenn terroristische Handlungen von Einzelnen ausgeführt werden, berufen sich diese auf bestehende rechtsextreme Ideologien und sind in ein dichtes Netz aus Verbündeten mindestens im Internet eingebunden.
Auch bei diesem Begriff können wir nicht eindeutig definieren, ab wann etwa aus einer Affinität eine Radikalisierung wird, da es sich hier um einen komplexen Prozesse und nicht um einen fixen Zustand handelt (ebd. S. 6). Selbst wenn bei radikalisierten Menschen psychische Dispositionen[2], wie Psychopathien und Narzissmus eine Rolle spielen können (nicht müssen!), sind immer „individuelle, zwischenmenschliche, gruppenspezifische, strukturelle wie institutionelle, historische und kulturelle Ursachen“ (ebd. S. 7) entscheidend für eine Einordnung und ein Verständnis von Radikalisierung. Radikalisierung ist damit nie als monokausal[3] zu verstehen. Ein weiteres Merkmal ist ihre Nähe zur Gewalt. Auch wenn nicht alle radikalen Handlungen sichtbar gewaltvoll sind, entspringen sie einer Ideologie, die Gewalt als Mittel zur Durchsetzung ihrer Ziele legitimiert. Gesellschaftliche Unsicherheit, wirtschaftliche Krisen und aber auch persönliche Konflikte können als Auslöser von Radikalisierungsprozessen eine Rolle spielen. Ob die Befürchtungen und Unsicherheiten auch mit der gegebenen politisch-wirtschaftlich-sozialen Lage übereinstimmen, ist nicht entscheidend. Es reichen Angst und Unsicherheit vor einer ungewissen und als bedrohlich wahrgenommenen Zukunft (vgl. Eckert 2020, S. 115). Ebenso (auch zeitgleich) können Gewissheiten über einen vermeintlichen Sieg und Statusgewinn Antrieb für radikale Handlungen sein.
[1] Weiter Informationen über den Mord an dem 20-jährigen Tankstellenkassierer durch einen im Netz und auf Messengerdiensten radikalisierten Menschen hier: https://www.sueddeutsche.de/politik/idar-oberstein-querdenker-mord-1.5417655.
[2]Unter Disposition wird sowohl eine ererbte als auch eine erworbene Anlage bezeichnet, welche mitbestimmt, dass manche Menschen auf bestimmte Faktoren mit Krankheitserscheinungen reagieren und andere nicht. Disposition kann Verhalten im Zusammenspiel von Anlagen und Umwelt erklärt. (vgl. Stangl, 2021).
[3] Monokausal bedeutet: „auf nur eine Ursache zurückgehend, sich auf nur eine Grundlage stützend. (Duden2021)
In der heutigen Zeit, in der Medien ein integraler Bestandteil der Öffentlichkeit sind und online sowie offline sich wechselseitig beeinflussen, sind die Grenzen zwischen analogen und digitalen Räumen zunehmend als fließend anzusehen (vgl. Fielitz; Marcks 2020, S. 12). Mithilfe sozialer Medien ist es der extremen Rechten gelungen, ein Propagandanetzwerk aufzubauen, über welches sich Fake News und alternative Erzählungen über Verschwörungen, Bedrohungen und Verrat wirkungsvoll verbreiten lassen. Wir alle kennen mittlerweile Schlagworte aus rechten Diskursen wie ‚Umvolkung‘, ‚Bevölkerungsaustausch`, ‚Überfremdung‘ und ‚Untergang des Abendlandes`, worin sich bestätigt, dass ihr Vorhaben, in bestehende Wissensbestände ‚alternative` Erzählungen einzuspeisen, erschreckend erfolgreich verläuft. Auch wenn wir diesen Erzählungen nicht direkt Glauben schenken, können sie eine Wirkung auf uns ausüben. Inhalte verbreiten sich nicht ausschließlich auf Grund ihres Wahrheitsgehalts, sondern auch weil andere Menschen diese überzeugend vermitteln und für wahr halten. Fachsprachlich wird in diesem Zusammenhang von Informationskaskaden[1] (Jaster, Lanius 2019, S. 61) gesprochen. Zuerst wird beispielsweise eine rechte Verschwörung von Personen weitergetragen, in deren Weltbild diese passt. Dann fangen auch Unentschiedene an, diese Erzählung für plausibel zu halten, was wiederum dazu führen kann, dass auch skeptische Personen sich überzeugen lassen. Besonders Zeiten gesellschaftlicher Veränderung und Unsicherheit wie unter der Corona-Pandemie, der damit einhergehenden zeitweisen Isolierung von Menschen, Verluste von Arbeitsstellen, Einschränkung von Freiheitsrechten und der steigenden Mobilisierung rechter Gruppen im Internet, tragen erheblich zur Anschlussfähigkeit von rechten Verschwörungserzählungen bei. Wir Menschen umgeben uns gerne mit Gleichdenkenden (vgl. ebd. S. 69). Dies kann zum Problem werden, wenn dadurch keine anderen Standpunkte mehr wahrgenommen werden. Diese Zusammenschlüsse von Gleichdenkenden werden Echokammern genannt. Diese gibt es sowohl online, als auch offline. Gefährlich werden diese Räume, wenn keine Kritik, keine anderen Meinungen mehr akzeptiert und aus dem Diskurs entfernt werden. Eine radikale Polarisierung findet statt, extreme Meinungen verstärken sich: In dem Zusammenspiel mit Filterblasen im Netz, welche sich über den Einsatz von Algorithmen, personenbezogenen Daten wie Klickverhalten, Standorte und Suchhistorien bilden, können sich Meinungen schnell radikalisieren. Neuere Untersuchungen zeigen, dass nicht allein Filterblasen, sondern vornehmlich unsere Veranlagung, Bekanntes zu suchen, zu lesen und zu verbreiten, eine Engführung begünstigen (vgl. ebd., S. 74). Auch spielen rechte Trolle eine große Rolle. Sie manipulieren die Informationsweitergabe und Ausrichtung von Themen im Netz und verhelfen damit rechten Ideologien zu mehr Bekanntheit. Ein Zusammenschluss rechter Netzaktivisten, der sich ‚Reconquista Germania‘ nennt, nimmt Einfluss auf Algorithmen, etwa indem innerhalb kürzester Zeit viele Post, Tweets und Kommentare gesendet werden und der Anschein erweckt wird, dass die Mehrheit der Nutzer*innen rechts denke. Diese werden dann weiterverbreitet: Journalist*innen lesen diese Posts, reagieren darauf, Thesen gelangen in Talkformate, Zeitungen und Nachrichten. Auf diese Weise gelingt es einer relativ kleinen Gruppe, ihre Themen in breite Diskurse einzuspeisen (vgl. Fuchs, Middelhoff 2019, S.161).
[1] Informationskaskaden bekommen nur dadurch Glaubwürdigkeit, weil andere Menschen sie für wahr halten (mehr dazu in Die Wahrheit schafft sich ab. Wie Fake News Politik machen von Jaster & Lanius, 2019.
Rechtsextremismus und Radikalisierung sind Phänomene, mit der sich Berufsschullehrkräfte auseinandersetzen und mit denen sie einen Umgang im Klassenraum finden müssen. Nachdem wir nun wissen, was für Phänomene hinter den Begriffen liegen, wollen wir in diesem Teil einen Blick in die Praxis werfen und uns über mögliche Handlungsoptionen Gedanken machen. Hier kann es kein schablonenhaftes Vorgehen geben, sondern bedarf es der Durchschau beispielhafter, spezifischer Situationen und Vorfälle vor Ort um einen besseren Umgang mit diesen zu finden. . Die Entwicklung einer eigenen Handlungsperspektive und die Reflexion der eigenen Involviertheit in rechtsextremes Gedankengut – wir habe in der Einheit gelernt, dass dieses in der Mitte der Gesellschaft verankert ist – kann innerhalb der kritischen Professionalisierung die Selbstwirksamkeit steigern.
Wie aber können wir in der Berufsschule Rechtsaffinität und Menschenfeindlichkeit erkennen? Was ist bei einem Eingreifen zu beachten und wo sind Grenzen der eigenen Handlungsmöglichkeiten? Diesen Fragen wollen wir uns im Folgenden annähern und erste Konzepte und Strategien besprechen.
Die Erarbeitung eines schulübergreifenden Handlungspapieres, in dem Verantwortlichkeiten und Verfahrenshinweise für bestimmte Schlüsselsituationen erfasst werden – etwa im Sinne eines Antidiskriminierungskonzepts – ist eine sinnvolle Grundlage (vgl. Foitzik, Holland-Cunz & Riecke 2019, S. 44). Wie in dem Fallbeispiel bereits deutlich geworden, ist der Schutz der Betroffenen handlungsleitend. Ein sensibles Vorgehen, ohne die betroffene Person in ihrer Handlungs- und Selbstwirksamkeit einzuschränken und das Opfer zu stigmatisieren muss daraus folgen.
Eine wichtige Säule im Umgang mit Rechtextremismus und Radikalisierung ist die Präventionsarbeit in der Berufsschule. Diese können bestenfalls Maßnahmen zur Verringerung rechtsextremer Einstellungen und Praktiken umfassen und verhindernd wirken. Diese zielt auf einzelne Merkmale wie „Vorurteile, Autoritarismus und Menschenfeindlichkeit“ (May, Henrich 2021, S.70) ab. In der Präventionsliteratur wird zwischen universeller (Fokus auf unspezifische Gruppen/Personen ohne direkte rechtsextreme Vorkommnisse), selektiver (Konzentration auf Gruppen /Personen, die Risikopotential für unerwünschte Einstellungen haben) und indizierte (unerwünschte Merkmale sind stark ausgeprägt) Prävention unterschieden (vgl. ebd., S.72). Darüber hinaus werden sozialräumliche Bedingungen (Peer, Schule, Wohnraum) in der strukturbezogenen Präventionsarbeit thematisiert. Die präventive Arbeit ist wichtig, da hier Personen, die mit einzelnen Fragmenten rechten Gedankenguts sympathisieren aber noch nicht vereinnahmt sind durch Dialog und Aufklärung noch erreichbar sein können. In dieser Arbeit werden Vorurteilen anhand von Faktenwissen aufgeweicht. An dieser Stelle ist es sinnvoll mit rechtsaffinen Schüler*innen das Gespräch zu suchen. Leitend können folgende Fragen sein (vgl: Foitzik, Holland-Cunz & Riecke 2019, S. 67)
- „Wie gefestigt ist die*der Betreffende in seinen Wahrnehmungen, Meinungen und ihrem*seinem Wissen?
- Handelt es sich um einzelne Schüler*innen oder mehrere?
- Wie vertraulich und tragfähig ist die Beziehung zum*r SuS?
Während des Gesprächs kann es hilfreich sein, das Gegenüber mehr auf seine individuelle Situation anzusprechen (Motiven und Hintergründe). Dies stärkt die Beziehungsebene, bedient werden also Fragen wie. „Wie kommst du darauf? Woher weißt du das? Was hat dich zu dieser Einstellung gebracht?“ (ebd.). Bei Minderjährigen kann das Einbeziehen der Eltern an dieser Stelle hilfreich sein. Eine Zusammenarbeit wird allerdings in den Fällen behindert, wenn Eltern selber rechtsextremistischen Ideologien folgen.
Haben sich Vorurteile bereits zu Urteilen eines rechtsextremen Weltbilds gefestigt, kann Aufklärung nicht mehr viel bewirken (vgl. Salzborn 2020, S. 145). Die Autoritarismusforschung weist darauf hin, dass geschlossene Weltbilder autoritären Strukturen wie Befehl und Gehorsam folgen und in diesem Stadium vor allem Repressionen wirkungsvoll sein können, da sie an diese Logik anschließen und zumindest potentielle oder direkte Opfer schützen können (vgl. ebd.). Sind Jugendliche und Erwachsene bereits in rechtsextreme Strukturen verankert und erfüllen ihre „Äußerungen oder Handlungen Straftatbestände [erfüllen], sollten diese auch konsequent strafrechtlich verfolgt werden“ (ebd., S. 149).
Für präventives und intervenierendes Handeln braucht es Personal, dass neben einer guten Vernetzung mit Kolleg*innen, Expert*innen und Beratungsangeboten auch selbst Kenntnisse über Radikalisierung und Rechtsextremismus hat, um handlungsfähig zu bleiben (vgl. Foitzik, Holland-Cunz & Riecke 2019, S. 64). Um Vorfälle im Klassenraum erkennen zu können, macht es Sinn, beispielsweise über Codes und Symbole rechter Gruppierungen Bescheid zu wissen. Allerdings verändern und erweitern sich diese stetig. Für pädagogische Fachkräfte braucht es aufgrund der sich ständig verändernden Dynamik, die mit gesellschaftlichen Veränderungen einhergeht, eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit diesem Thema.
In dieser Aufgabe geht es um die Auseinandersetzung mit verfassungswidrigen Symbolen.
Unter folgenden Link finde Sie eine interaktive Plattform über Codes, Styles und Symbole der rechtsextremen Szene: https://www.kein-raum-fuer-rechts.de, welche sehr spannend aufgebaut ist und zugleich informativ. Finden Sie mindestens drei Symbole, Marken oder Codes die Sie noch nicht kannten und stellen diese kurz vor.
Für eine übersichtliche Darstellung von Codes, Symbolen und dergleichen finden Sie in der verlinkten Broschüre „Kennzeichen und Symbole der rechtsextremen Szene“ weiter Informationen https://demokratieundvielfalt.de/wp-content/uploads/2017/02/Kennzeichen_und_Symbole_der_rechtsextremen_Szene.pdf
Eine stetige Weiterentwicklung des eigenen Wissens, sowie eine gute Vernetzung ist grundlegend für Handlungsfähigkeit. Es gibt diverse Beratungsangebote und Weiterbildungsmöglichkeiten.
Recherchieren Sie die folgende Auflistung von Beratungs- und Weiterbildungsangeboten. Halten Sie in der Tabelle Schlagworte fest, welche Schwerpunkte und Inhalte die jeweilige Beratungsstelle hat. Wissen Sie bereits, in welchem Bundesland Sie unterrichten werden? Fokussieren Sie sich auf Angebote in diesem Bundesland und ergänzen Sie die Liste. Bitte füllen Sie für mindestens vier Beratungsangebote die Tabelle (Inhalt/Schwerpunkt) aus. Laden Sie ihre Tabelle bei P:ier hoch.
Name | Homepage | Inhalt/Schwerpunkte |
Mobile Beratung
(Bundesverband) |
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Mobile Beratung
(bitte ein Bundesland auswählen und kurz vorstellen) |
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Starke Lehrer – starke Schüler
(Berufsschulen Brandenburg)
| https://www.bosch-stiftung.de/de/projekt/starke-lehrer-starke-schueler/im-detail
https://www.bpb.de/presse/328781/starke-lehrer-starke-schueler |
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Online Beratung gegen Rechtsextremismus
(Bundesweit) | https://www.online-beratung-gegen-rechtsextremismus.de/startseite/ |
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Demokratie schützen – jetzt!
(Amadeu-Antonio Stiftung
| https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/demokratie-schuetzen-jetzt/ |
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Zentrum demokratische Bildung (Hamburg, Wolfsburg |
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Demokratie und Vielfalt (Berlin Brandenburg und bundesweit) | https://demokratieundvielfalt.de/angebote/ #angebote_praevention |
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Opfer und Betroffenenberatung (bitte ein Bundesland wählen) | https://www.demokratie-leben.de/projekte-expertise/beratungsangebote/alle-angebote-der-opferberatung |
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Distance – Ausstieg rechts
(Nord-West-Niedersachsen) |
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Lesen Sie das vorgestellte Fallbeispiel noch einmal durch. Finden Sie es berechtigt, dass die Lehrperson Daniel angezeigt hat? Wie würden Sie in einem ähnlichen Fall vorgehen. Begründen Sie ihre Meinung.
Erklären Sie bitte ausgehend von Rebekka Blums Artikel „Rechter Terror in Deutschland. Wie Rassismus und Männlichkeit zusammenhängen“ den Zusammenhang zwischen Frauen*hass und Rassismus in rechtsextremen Ideologien. Gehen Sie in diesem Zusammenhang auch darauf ein, warum bei einer geschlechterspezifischen Analyse die Motive der Täter*innen nicht außer Acht gelassen werden dürfen.
Dokumentationen | Link zur Homepage |
Im Visier – Neonazis planen den Umsturz Doku, BR 2021 | https://www.youtube.com/watch?v=h5p1y_ZjCMA
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Die alte Neue Rechte
Doku ARTE 2021
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Rechts und Radikal – Warum gerade im Osten? Doku 2020, ARD
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Was ist Rechtsextremismus? Bpb | https://www.bpb.de/politik/extremismus/ rechtsextremismus/236157/was-ist-rechtsextremismus |
Erinnerungskultur – Kein Schlussstrich
Keuninghaus, 2021 |
|
Webtalk: „Der rechte Weg“ bpb 2016 | https://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtsextremismus/237273/webtalk-der-rechte-weg |
Podcast | Link zur Homepage |
„Fünf Folgen über Extremismus“ Bpb, 2019 | https://www.bpb.de/mediathek/314088/fuenf-folgen-ueber-extremismus-folge-1-grundbegriffe |
DE:HATE-Reihe
Amadeu Antonio Stiftung, 2017. 2021 | |
| Online Informationen gegen Rechtsextremismus
|
Hass im Netz // Jugendschutz.net | Aufklärung über Strategien des Rechtsextremismus |
Belltower News | Presseschau der Amadeu-Antonio-Stiftung zu rechtsextremen Vorfällen |
Kein Raum für Rechts | https://www.kein-raum-fuer-rechts.de Aufklärung über rechtsextreme Symbole, Styles und Codes. Interaktiv gestaltet. |
- Amnesty International (2019): Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Berlin.
- Amadeu Antonio Stiftung (oJ.). Was ist Rechtsextremismus und Rechtspopulisus? online: Gefunden am 12.12.2021 unter: https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/rechtsextremismus-rechtspopulismus/was-ist-rechtsextremismus/. (Zugriff 12.12.2021).
- Blum, Rebekka (2021). Rechter Terror in Deutschland: Wie Rassismus und Männlichkeit zusammenhängen. In O. Nobrega, M. Quent & J. Zipf (Ed.), Rassismus. Macht. Vergessen.: Von München über den NSU bis Hanau: Symbolische und materielle Kämpfe entlang rechten Terrors (pp. 161-174). Bielefeld: transcript Verlag. https://doi.org/10.1515/9783839458631-012
- Böckler, Nils; Zick, Andreas (2015). Wie gestalten sich Radikalisierungsprozesse im Vorfeld jihadistisch-terroristischer Gewalt? Perspektiven aus der Forschung. In: Molthagen, Dietmar (Hrsg.). Handlungsempfehlungen zur Auseinandersetzung mit islamistischem Extremismus und Islamfeindlichkeit. Friedrich Ebert Stiftung: Forum Berlin.
- Butterwege, Christoph; Hentges, Gudrun & Wiegel, Gerd (2018). Rechtspopulisten im Parlament. Polemik, Agitation und Propaganda der AFD. Frankfurt/Main: Westend.
- Deutscher Bundestag (2020). Das Grundgesetz. Online: https://www.bundestag.de/gg (Zugriff 13.12.2021).
- DLF (2021). Sachsen. Eine Festnahme nach Razzia wegen Morddrohungen gegen Kretschmer. Online: https://www.deutschlandfunk.de/durchsuchungen-in-dresden-wegen-mordplaenen-gegen-kretschmer-102.html. (Zugriff 14.12.2021).
- Eckert, Roland (2020). Radikalisierung in konflikttheoretischer Perspektive. In: Brahim Ben Slama, Uwe Kemmesies (Hrsg.). Handbuch Extremismusprävention- Gesamtgesellschaftlich. Phänomenübergreifend. Hamm: Griebsch & Rochol.
- Fielitz, Maik; Marcks, Holger (2020). Digitaler Faschismus. Die sozialen Medien als Motor für Rechtsextremismus. Berlin: Dudenverlag.
- Fischer, Sebastian (2018). Studie: Evaluation des sächsischen Modellprojektes „Starke Lehrer –starke Schüler“. Stuttgart: Robert Bosch Stiftung.
- Foitzik, Andreas; Holland-Cunz, Marc; Riecke, Clara (2019). Praxisbuch Diskriminierungskritische Schule. Weinheim: Beltz.
- Heitmeyer, Wilhelm; Freiheit, Manuela & Sitzer, Peter (2020). Rechte Bedrohungsallianzen. Berlin. Suhrkamp.
- Jaster, Romy; Lanius Davis (2019): die Wahrheit schafft sich ab. Wie Fake News Politik machen. Ditzingen: Reclam.
- Kinkartz, Sabine (2021). Per Telegram zum Fackelzug. DW: Online: https://www.dw.com/de/coronavirus-proteste-per-telegram-zum-fackelzug/a-60020690. (Zugriff 12.13.2021).
- May, Michael, Heinrich Gudrun (2021): Rechtsextremismus pädagogisch begegnen. Stuttgart: Kohlhammer (bpb).
Richard Stöss (2010). Rechtsextremismus im Wandel. Bonn: Universitätsdruckerei. - Salzborn, Samuel (2020). Rechtsextremismus. Erscheinungsformen und Erklärungsansätze. 4. Aufl. Baden-Baden: Nomos.
- Reinfrank, Timo (2021). Corona-Proteste: Sachsen ist Hotspot von Pandemie und Radikalisierung – Amadeu Antonio Stiftung fordert entschlossenes Handeln von der Bundesregierung. Online: https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/pressemitteilungen /corona-proteste-sachsen-ist-hotspot-von-pandemie-und-radikalisierung-amadeu-antonio-stiftung-fordert-entschlossenes-handeln-von-der-bundesregierung/ (Zugriff 14.12.2021).
- Stangl, W. (2021). Stichwort: ‚Disposition – Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik‘. Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik.
WWW: https://lexikon.stangl.eu/212/disposition. (Zugriff 15.12.2021). - Wilhelm Heitmeyers (1987) und 1992
- Zick, Andreas; Küpper, Beate (2020a). Die geforderte Mitte. Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2020/21.Bonn: J. H. W. Dietz.
- Zick, Andreas (2020b). Dynamiken, Strukturen und Prozesse in extremistischen Gruppen. In: Slama, Brahim Ben/Kemmesies, Uwe (Hg.). Handbuch Extremismusprävention: gesamtgesellschaftlich, phänomenübergreifend (269-311). Wiesbaden: Bundeskriminalamt.
- Zick, Andreas (2021). Andreas Zick über die neue Radikalisierung. Interview Online: https://www.3sat.de/kultur/kulturzeit/gespraech-mit-andreas-zick-106.html. (Zugriff 12.12.2021).
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