Modul 10 | Ableismus
Ableismus
#Normalisierung #Sozialkonstruktivismus #Disability Studies #soziales, kulturelles und menschenrechtsorientiertes Modell #einfache Sprache
In diesem Modul wird in Hinblick auf eine differenzsensible Praxis in Berufsschulen in den Begriff und das Phänomen Ableismus eingeführt. Dazu werden Überlegungen zur Definition des Begriffs herausgearbeitet. Es folgt eine überblicksartige Einführung in den Ansatz der Disability Studies. Im Anschluss können die Inhalte durch das Erarbeiten von Aufgaben verfestigt werden und Überlegungen für den Berufsschulkontext und die eigene Praxis erfolgen.
- Fallbeispiel
- Theorie
- Aufgabe & Reflexion
- Weitere Informationen
Ein Beispiel – zwei Formen von Ableismus
- Es ist Feierabendbetrieb im Supermarkt und Frau Schmitz erledigt ihren wöchentlichen Einkauf. In ihrem Rollstuhl steht sie an der Kasse an. Als sie an der Reihe ist, versucht sie so schnell wie möglich den Einkauf in ihrem Rucksack zu verstauen. Da das Kassenband jedoch sehr hoch ist, kommt Frau Schmitz nur schlecht an ihre Einkäufe heran. Als es der Kassiererin nicht schnell genug geht, äußert diese genervt: „Können Sie nicht zu einer anderen Tageszeit ihren Einkauf erledigen? Sie halten hier mit ihrem Rollstuhl den ganzen Verkehr auf.
- Auf die Äußerung der Kassiererin antwortet Frau Schmitz, dass sie tagsüber ihrem Job nachgehe und daher keine Zeit habe zu einer anderen Tageszeit ihren Einkauf zu erledigen. Daraufhin reagiert die Kassiererin erstaunt und mit Bewunderung: „Das ist aber großartig, dass sie trotz ihres Rollstuhls einem ganz normalen Beruf nachgehen.“ (Aktion Mensch online, o.J.)
Das Beispiel zeigt eine alltägliche Situation, in der Ableismus, also die Diskriminierung einer Person mit Behinderung, stattfindet. Ableismus kann, wie die Beispiele verdeutlichen, sowohl als Ab- als auch als Aufwertung einer Person sichtbar werden. Auch hinter einer scheinbar positiven Aussage liegt die fatale Annahme, dass Personen mit Behinderung eigentlich nicht in der Lage seien einem „ganz normalen Beruf“ nachgehen zu können. Neben alltäglichen Situationen findet Ableismus auch im Gesundheitswesen, in Behörden und im Arbeitsleben statt. Die Berufsschule ebenso Ort der Hervorbringung von Ableismus, kann aber auch im Zuge einer diskriminierungskritischen Reflexion ihrer Strukturen dazu beitragen, auf unterschiedlichen Ebenen weniger ableistisch zu agieren.
„Warum Ableismus Nichtbehinderten hilft, sich „normal“ zu fühlen“
(Maskos 2021, online)
Der Begriff „Ableismus“ wird von dem englischen Wort „ability“ (to be able = fähig sein) abgeleitet. Unter Ableismus versammelt sich ein breites Spektrum an Vorurteilen über Menschen mit Behinderung als besonders, weniger fähig, hilflos, bedürftig und „anders“ als „die Norm“. Menschen werden hier auf ihre geistigen, psychischen und körperlichen Fähigkeiten reduziert und oft in eine Gruppenidentität „der Behinderten“ geordnet. Mit Ableismus (im englischsprachigen Raum wird in diesem Zusammenhang von Ableism gesprochen) ist also die alltägliche Reduktion und damit einhergehende Abwertung von Menschen aufgrund ihrer „Fähigkeiten oder Charakteristiken“ (Maskos 2011, S. 3) gemeint.
„Ableismus zeigt sich, wenn wir als kompetentes Subjekt auf Augenhöhe gar nicht vorkommen, wenn wir unsichtbar scheinen, wenn über unseren Kopf hinweg über uns entschieden wird. Wenn unsere Freund*innen und Partner*innen als unsere „Betreuer*innen“ angesprochen“ werden.“ (Maskos 2020, online).
Ableismus hat einige Überschneidungen mit Behindertenfeindlichkeit, wie etwa Hass und Gewalt (vgl. Maskos 2015, 2020). Grenzt sich zu Behindertenfeindlichkeit aber dennoch wie folgt ab: Ein abwertender Umgang mit Behinderung muss nicht immer feindlich sein, sondern kann auch in scheinbar positiven Aussagen zutage kommen. Ähnlich wie bei anderen Diskriminierungen auch, ist es zentral, die gesellschaftlichen Strukturen und Machträume in den Blick zu nehmen und die Ableismus-hervorbringende Praxen zu untersuchen.
„Ableismus zeigt sich nicht nur im schrägen Kommentar oder im Kopfstreicheln, sondern auch in der Treppe ohne Rampe, im fehlenden Aufzug, in den Geldern, die Veranstalter*innen für Gebärdensprachdolmetschen, Live-Streaming oder Leichte Sprache einfach nicht aufbringen wollen.“ (Maskos. 2020 online).
Mit dem Begriff Ableismus können also zum einen alle möglichen Formen von Ausgrenzung, Diskriminierung, Benachteiligung und Gewalt erfasst werden, die Menschen mit vorhandener oder zugeschriebener Behinderung erfahren. Zum anderen bietet der Begriff die Möglichkeit, grundsätzlich Kritik an gesellschaftlichen Zuständen und kapitalistischer Verwertungslogiken zu üben, welche bestimmte vorherrschende und als normal empfundene Körpernormen und Annahmen über Gesundheit erst produzieren.
Durch die ständige Konfrontation mit ableistischen Aussagen kann es, ähnlich wie bei Rassismus oder Sexismus, dazu kommen, dass die Betroffenen diese Zuschreibungen verinnerlichen und sich selber als Belastung für die Gesellschaft empfinden. Neben den vielen Überschneidungen zu anderen Diskriminierungen betont Maskos (2020) aber auch Unterschiede, wie die Fragilität des Nicht-Behindert-Seins, da alle Menschen durch Krankheit oder Unfälle im Laufe ihres Lebens zeitweise oder dauerhaft behindert werden können. Mit fortschreitendem Alter wird das Thema Behinderung für alle Menschen in der einen oder anderen Weise relevant. Maskos (ebd.) mutmaßt, gerade weil Behinderung so nah an den Lebensrealitäten von Personen aller gesellschaftlichen Klassen ist, löst es oft Angst und Verunsicherung aus. „Ableistisches Handeln kann ein Versuch sein, sich eine unangenehme Wahrheit vom Leib zu halten: Niemand ist unverletzlich.“ (ebd.) Eine Auseinandersetzung mit dem Thema kommt nicht an einer Infragestellung vermeintlich verlässlicher Normen vorbei. Behinderung ist nicht die Abweichung, sondern Teil von „Normalität“.
Behinderung kann aus einer menschenrechtlichen Perspektive mit Bezug auf die 2006 in Kraft getretenen UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) in Deutschland wie folgt definiert werden:
„Zu den Menschen mit Behinderungen zählen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Partizipation an der Gesellschaft hindern können.“ (Art. 1 Abs. 2 BRK).
Damit verpflichtet sich Deutschland für alle Menschen mit Behinderung bestehende Grundfreiheiten und Menschenrechte zu gewährleisten. Die BRK darf nicht als ein „Sonderrecht“ für Menschen mit Behinderung verstanden werden, sondern im Sinne voller gesellschaftlicher Teilhabe werden bestehende Menschenrechtsverträge der Vereinten Nation für die Lebenslagen von Menschen mit Behinderung angepasst (vgl. Schmahl, 2007).
Im Sozialgesetzbuch § 2 Absatz 1 ist Behinderung ebenfalls aufgeführt. Dort heißt es wie folgt:
„Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben der Gesellschaft beeinträchtigt“
Das in diesem Text verwendete Verständnis von Behinderung schließt an die Disability Studies an, wendet sich gegen ein medizinisches Erklärungsmodell und plädiert für eine sozialkonstruktivistische Perspektive auf Behinderung. (Genauere Unterscheidungen dieser Ansätze werden im nächsten Teil zu Disability Studies erläutert und vertieft). An dieser Stelle nur einleitend Folgendes:
„Behinderung (disability) [ist] nicht Ergebnis medizinischer Pathologie, sondern Produkt sozialer Ausschließungs- und Unterdrückungsmechanismen. Menschen »sind« nicht zwangsläufig aufgrund ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigungen »behindert«, sondern sie »werden«, indem Barrieren gegen ihre Partizipation errichtet werden, im sozialen System und durch das soziale System „zu Behinderten gemacht‘“ (Waldschmidt 2008, S. 5800).
In diesem Zusammenhang ergibt es Sinn, den Unterschied zwischen Beeinträchtigung und Behinderung auszuloten. Die „International Classification of Functioning, Disability and Health“ (ICF) fasst unter „Beeinträchtigung“, was von „Körpernormen“ abweicht, Schmerzen verursacht oder Körperfunktionen einschränkt (wie fehlende Gliedmaßen, abweichende Körpergröße, Sehbeeinträchtigungen) zusammen. Beeinträchtigungen können angeboren sein oder im Verlauf des Lebens auftreten.
Von „Behinderung“ ist erst die Rede, wenn eine Beeinträchtigung (Individuum) und bauliche, einstellungsbedingte und strukturelle Barrieren (Gesellschaft) zusammenkommen:
„Nicht allein das Angewiesen-Sein auf den Rollstuhl macht die Behinderung, sondern die nicht barrierefreie Umwelt“ (Maskos 2015, S. 5).
Behinderungen entstehen, wie eben herausgearbeitet, maßgeblich durch gesellschaftliche Normalitätsvorstellungen und können nicht als ein rein „körperliches Ereignis“ (ebd.) betrachtet werden.
Körperbehindert ist nach Leyendecker (2005) eine Person, wenn sie
„infolge einer Schädigung des Stütz- und Bewegungssystems, einer anderen organischen Schädigung oder einer chronischen Krankheit so in ihren Verhaltensmöglichkeiten beeinträchtigt ist, dass die Selbstverwirklichung in sozialer Interaktion erschwert ist“ (ebd., S. 21).
Erschwert wird die Teilhabe und Selbstverwirklichung durch Vorurteile von Mitmenschen oder durch Zugangsbarrieren in beispielsweise Bildung, Wohnen und Architektur. Denn das Fehlen einer Rampe kann ebenso wie das Ausgliedern von Menschen mit Beeinträchtigung in Förderschulen Teilhabe behindern. Menschen mit körperlicher Beeinträchtigung sind stark betroffen von Diskriminierung und Ausgrenzung.
Mit dem Konzept der „Inklusion“ wird der Versuch unternommen, Zugangsbarrieren von gesellschaftlicher Seite her abzubauen und Teilhabe zu gewährleisten. Auch dass eine körperliche (und/oder geistige) Beeinträchtigung nicht in Ausgrenzung und Absonderung mündet, ist Teil eines inklusiven Auftrags. Inklusion kann also verstanden werden
„als ein menschenrechtlich begründeter Prozess der Veränderung der Lebensbereiche im Hinblick auf ein visionäres Ziel, nach dem alle Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit jederzeit vollkommen gleichberechtigt und gleichwertig behandelt werden, sodass sie ihr Leben weitestgehend selbstbestimmt in der Gesellschaft leben können“. (Walter-Klose 2020, online)
Wird (Körper)Behinderung in diesem menschenrechtlichen Sinne verstanden, geht Behinderung alle etwas an. Gesellschaft muss also die Diversität der Menschen ernst nehmen, damit ein menschenwürdiges, selbstbestimmtes Leben für alle ermöglicht wird.
Für die eben aufgeführte Perspektive setzen sich die Disability Studies ein, indem sie fordern, die gesellschaftliche Dimension von Behinderung in den Blick zu nehmen. Inwiefern tragen Werte der kapitalistischen Leistungsgesellschaft und Entsolidarisierung zur Behinderung des/der Einzelnen bei?
Das folgende Kapitel wird sich diesen Fragen über die Vorstellung der Disability Studies annähern. Hierzu wird in einem ersten Schritt durch die Vorstellung des Dokumentarfilms „Crip Camp“ ein Einstieg in die Entstehungsgeschichte gegeben.
Der Dokumentarfilm „Crip Camp“ zeigt das Leben in den 1960er Jahren in dem Sommercamp nördlich von New York gelegen und kontextualisiert es in der internationalen Crip-Bewegung. Das sogenannte „Jenet Camp“ gilt als Sprungbrett der internationalen Behindertenrechtsbewegung, die in den USA ihren Anfang nahm und sich dann zunehmend weltweit verbreitete. Ursprünglich von Familien gegründet worden, in denen Kinder mit Polio lebten, entwickelte es sich schnell zu einem Anziehungspunkt für Teenager mit unterschiedlichen Behinderungen. Das Camp zeigte, wie einfach das Leben sein kann, wenn die Gedanken nicht um eine individuelle Behinderung kreisen, sondern darum, wie das Leben entsprechend gestaltet werden kann. Wo man nicht über Barrieren nachdenken muss, weil es sie nicht gibt (vgl. Rübel 2020).
Aus diesen bürger- und menschenrechtlich orientierten Emanzipationsbewegungen und Kämpfen gehen bereits in den 1970er Jahren die Dis/ability-Studies (DS) hervor, wie sie von angloamerikanischen und britischen behinderten Wissenschaftler*innen parallel entwickelt wurden (vgl. Brehme/ Fuchs/ Köbsell et al. 2020, S. 9). Diese standen und stehen dem damaligen „medizinischen“ sowie „defizitorientiertem“ Ansatz diametral gegenüber. Im medizinischen Modell wird Behinderung als eine individuelle, krankhafte Störung gerahmt. Wohingegen sie durch die Disability Studies als gesellschaftliche Konstruktion betrachtet wird (vgl. Degener 2003).
Die Disability Studies (DS) problematisieren Zuschreibungen wie „krankhafte Störung“ und arbeiten heraus, dass die wirklichen Probleme behinderter Menschen nicht in ihrer individuellen Beeinträchtigung, sondern in den ausgrenzenden gesellschaftlichen Bedingungen, dem eingeschränkten Zugang zu gesellschaftlicher Teilhabe und den massiven Vorurteilen gegenüber Behinderung bestehen. Diese Dimension knüpft direkt an die Forderungen der internationalen Behindertenbewegung an, die für
„die Befreiung aus fremdbestimmten und bevormundenden Lebensverhältnissen und für die volle gesellschaftliche Teilhabe behinderter Menschen“ (Brehme/ Fuchs/ Köbsell et al. 2020, S. 9)
eintreten. In der Perspektive der DS wird Behinderung dann auch nicht als naturgegebenes Phänomen betrachtet, sondern als gesellschaftlich negativ bewertete Differenz dekonstruiert.
Anliegen der DS ist es, diese sozial konstruierte Differenz in ihrem jeweiligen historischen, sozialen und kulturellen Kontext zu analysieren und vermittelnd aufzubereiten.
Dieser kritische und ermächtigende Ansatz, der im deutschsprachigen Raum seit den 2000er Jahren stärker in den Vordergrund tritt, hinterfragt durch seinen dekonstruktiven Ansatz die bis heute vorherrschende konservativ gefasste Perspektive, die Behinderung aus medizinisch- (heil- und sonder-)pädagogisch als schicksalhaft und persönliches Unglück rahmt. In der naturalisierenden Perspektive ist Behinderung ein individuelles Problem, das eben dann auch individuell zu bewältigen ist und nicht strukturell auf seine diskursive Konstruiertheit und daraus folgende Machtförmigkeit hin untersucht wird (vgl. Brehme/ Fuchs/ Köbsell 2020, S. 9).
Im Fokus der DS steht hingegen die (De-)Konstruktion von Normalität und Behinderung aus dem Blickwinkel verschiedener Wissenschaftsdisziplinen. Dabei werden die Perspektiven und das Erfahrungswissen von Forscher*innen und außerakademischen Akteur*innen mit Beeinträchtigungen zentral gesetzt sowie hegemoniale und machtförmige Wissensordnungen problematisiert. Diese Wissensordnungen materialisieren sich in diskursiven Praktiken, Dokumenten, Gesetzen und Politiken und bringen machtvolle Effekte hervor. Die DS analysieren insofern „Praktiken des Behinderns“, der „Diskriminierung“, „Exklusion“ und der „paternalistischen Fürsorge“.
Basierend auf einer dekonstruktivistischen Sicht auf „Behinderung“ als gesellschaftlicher Konstruktion werden unterschiedliche Ansätze genutzt, um diese zu analysieren. In den deutschsprachigen Disability Studies haben sich weitgehend zwei Modelle herauskristallisiert:
- das soziale/menschenrechtliche,
- Das kulturelle Modell
Die Modelle haben die Gemeinsamkeit der begrifflichen Differenzierung zwischen „Beeinträchtigung“ (impairment) als Bezeichnung für eine individuelle, verkörperte Differenz und „Behinderung“ (disability) als Kategorie gesellschaftlicher Benachteiligung. Erst diese Unterscheidung ermöglicht die Analyse behindernder Praktiken und Umgangsweisen, die Behinderung als sozialen Gegenstand herstellen (vgl. Brehme/ Fuchs/ Köbsell 2020; Waldschmidt 2005).
Außerdem betonen beide Modelle dabei jeweils, dass die Erfahrungen von Behinderung für verschiedene Menschen, auch bei äußerst ähnlichen medizinischen Ausgangslagen, sehr unterschiedlich sind. Zeit- und kontextspezifische Rahmungen haben spezifische Einflüsse auf die konkrete Lebenssituation von Menschen. Die gesellschaftliche Benachteiligung, die mit einer Beeinträchtigung verbunden ist, ist demnach nicht vom Individuum abhängig, sondern resultiert aus gesamtgesellschaftlichen Prozessen. Daraus folgt, dass sich in der Perspektive des sozialen und kulturellen Modells nicht der einzelne Mensch, sondern die Gesellschaft ändern muss, damit behinderten Menschen eine uneingeschränkte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben möglich wird (vgl. Waldschmidt 2003).
Das soziale Modell wurde in den 1970 und 1980 Jahren in England entwickelt. Es steht für einen Paradigmenwechsel. Von einer Anpassung behinderter Menschen an ihre Umwelt hin zu dem eben beschriebenen Ansatz der gesellschaftlichen Hervorbringung von Behinderung.
Den sozialen und kulturellen Modellen steht das individualistisch-medizinische Modell gegenüber. Dieses Modell gilt in der heutigen Debatte als überholt, auch wenn es im Verständnis über Behinderung in den Köpfen vieler Menschen noch wirkt. Es beschriebt Behinderung als einen Ursache-Wirkung-Komplex. Eine „Persönliche Tragödie“ (Krankheit) (Waldschmidt 2005, S. 26) führte demnach zu einer Einschränkung der Fähigkeiten, welche wiederum soziale Nachteile / eine Behinderung nach sich zöge. Behinderung ist hier also die logische Folge einer individuellen Beeinträchtigung und wird, wie oben bereits angedeutet, einer medizinischen Begleitung unterzogen (vgl. Waldschmidt 2005, S. 28).
Die Disability Studies fordern darüber hinaus auf methodologischer Ebene einen notwendigen Perspektivwechsel mit Folgen: Denn indem sie behinderte Menschen zum Subjekt von Wissenschaft machen, statt sie – wie bisher üblich – als zu beforschendes Objekt betrachten (vgl. Priestley 2003) werden Interventionen und Veränderungen auf der epistemischen Ebene eingeführt (= Intervention auf der legitimierten Ebene der wissenschaftlichen Wissensproduktion) und im Anschluss daran Forderungen auf der Ebene gesellschaftlicher Rahmenbedingungen gestellt.
Das bedeutet dann konkret, dass die Erfahrungen und Perspektiven von behinderten Menschen in den Mittelpunkt von Untersuchungen über Behinderung gestellt werden und nicht weiterhin nur aus Sicht von Pädagog*innen oder Mediziner*innen betrachtet werden. Um zu verstehen, wie sich die gesellschaftliche Konstruktion des Phänomens Behinderung vollzieht, werden benachbarte wissenschaftliche Disziplinen miteinbezogen. Aus kulturhistorischen Ansätzen heraus, wird versucht nachzuvollziehen, wie Behinderung in verschiedenen historischen Epochen gesehen wurde und welche (kulturellen/sozialen) Lebensbedingungen jenen Menschen, die als behindert bezeichnet wurden, in der jeweiligen Zeit zugestanden wurden.
Vermehrt wurde in den letzten Jahren durch verschiedene Ansätze der Disability Studies darauf aufmerksam gemacht, dass für die Veränderung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen zugunsten behinderter Menschen voraussetzend ist, dass Wissen darüber produziert wird, welche gesellschaftlichen Prozesse behinderte Menschen als ausgrenzend erleben und welche Bedingungen geschaffen werden müssen, um ein möglichst selbstbestimmtes Leben führen zu können. Trotz dieser zahlreichen Beiträge und Interventionen in gesellschaftliche und wissenschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse, kann man heute nicht von einem grundlegenden Paradigmenwechsel sprechen. Noch immer konzipieren viele Forschungseinrichtungen und -ansätze behinderte Menschen eher als Objekte denn als Subjekte und daraus folgt, dass es auch an Studien und Wissen fehlt, die die Perspektiven der betroffenen Menschen umfassend und vielfältig miteinbeziehen (vgl. Hermes, 2013) und als Folge daraus auf der politischen und sozialen Ebene sich wenig verändert im Hinblick auf die Veränderung der lebensweltlichen Gestaltung (Arbeit, Wohnen, öffentliche Räume) sowie auch die Haltung im privaten und öffentlichen (paternalistische Fürsorgehaltung).
Obwohl mit der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) die Menschenrechte auch in den Disability Studies ein wichtiges Thema geworden sind, hat sich eine bewusst menschenrechtsbasierte Forschung bisher kaum etablieren können. Menschenrechtsorientierte sowie Ansätze der Disability Studies fokussieren beide auf politischen Veränderungen und wenden sich gegen Diskriminierung und Ausschluss.
Entwickelt wurde der menschenrechtsbasierte Ansatz in den achtziger Jahren im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit. Das Hohe Kommissariat für Menschenrechte definiert ihn
„als konzeptionellen Rahmen für den Prozess der menschlichen Entwicklung, der normativ auf internationalen Menschenrechtsstandards basiert und operativ auf die Förderung und den Schutz der Menschenrechte ausgerichtet ist. Ziel ist die Analyse von Ungleichheiten, die im Mittelpunkt von Entwicklungsproblemen stehen, und von diskriminierenden Praktiken und ungerechter Machtverteilung, die den Entwicklungsfortschritt behindern“ (Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights 2006, S. 22).
Die Anknüpfung der DS an den menschenrechtsbasierten Forschungsansatz lässt sich durch seine Anbindung an die internationalen Menschenrechtsnormen und an die sie prägenden Prinzipien nachvollziehen. Vier Dimensionen durchziehen diesen Ansatz: 1. seine Wertegebundenheit, 2. die Sensibilität für Machtverhältnisse, 3. Partizipation und 4. Transparenz. Die Wertegebundenheit besteht in dem Interesse, Menschenrechte zu realisieren, die Rechteinhaber*innen zu lokalisieren und sie zu ermächtigen, diese Rechte auch wahrzunehmen (vgl. Flieger/Schönwiese 2011; Hirschberg 2012)
Eine Linie dieser Bewegungen mündete in die UN-Konvention “Selbstbestimmtes Leben” 1. Im Rahmen dieser Konvention drückt sich deutlich der Wandel von einem zu bemitleidenden „Objekt der Fürsorge“ hin zu einem menschenrechtsorientierten Ansatz für Menschen mit Behinderungen aus, der Menschen mit Behinderungen gewährleisten soll „in eigener Verantwortung ein möglichst selbständiges und selbstbestimmtes Leben zu führen“ 2.
Eine andere Linie führt zur umgreifenden Umgestaltung von Architektur, wie sie unter dem Ansatz Universal Design for Learning (UDL) bekannt wurde und in Verknüpfung beziehungsweise im Anschluss an die oben erwähnten rechtlichen Kämpfe zu sehen sind. Im Fokus stehen die Prinzipien Inklusion und Barrierefreiheit in Bezug auf Bildungssituationen, wie im beigefügten Einstiegsartikel zu „Universal Design im Kontext von Inklusion und Teilhabe“ nachzulesen ist und mit der Aufgabe 2 genauer bearbeitet wird.
Der vorliegende Textteil schließt vorläufig mit einem Zitat aus dem Film „Crip Camp“, das zum einen auf die nicht eingestandenen Rechte behinderter Menschen anspielt, die behinderte Menschen jeden Tag aufs Neue „Behindert-Werden“ lassen und durch die nicht eingestandenen Rechte und den Nicht-Abbau von Barrieren die lebensweltlichen Bedingungen nahezu unverändert lässt und dadurch gleichzeitig behinderten Menschen ein selbstbestimmtes Leben verunmöglicht und paternalistische Fürsorge weiterhin aufrechterhält und legitimiert:
“We will no longer allow the government to oppress disabled individuals. And I would appreciate if you would stop shaking your head in agreement when I don’t think you understand what we are talking about” (Crip Camp, Disability Revolution, Netflix-Dokumentation, 2020).
1 https://www.behindertenbeauftragter.de/DE/Koordinierungsstelle/UNKonvention/Inhalt/06SelbstbestimmtesLeben/SelbstbestimmtesLeben_node.html
2 https://www.behindertenrechtskonvention.info/unabhaengige-lebensfuehrung-3864/
In der (Beruf)Schule kommen, ebenso wie in der Gesellschaft insgesamt, Machtverhältnisse, internalisierte Normalisierungsverständnisse und Vorurteile zum Ausdruck. Um inklusiver zu werden und allen Menschen Zugang zu ermöglichen, ist eine Auseinandersetzung mit Menschenrechten, eine Sensibilisierung für Differenzen und Diskriminierung und eine Reflexion der eigenen Werte eine stetige Aufgabe aller an Schulen Beteiligten. Gegen Ableismus anzugehen, Zugangshürden abzubauen und Teilhabe zu ermöglichen ist in der UN Behindertenrechtskonvention unter Artikel 24, Abs. 1 festgehalten. Alle Menschen mit Behinderung haben ein Recht auf Bildung:
„Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung. Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein integratives [inklusives] Bildungssystem auf allen Ebenen und lebenslanges Lernen […]“ (UN-Behindertenrechtskonvention Artikel 24 Abs. 1)
Was bedeutet das Wissen um Ableismus für die Arbeit als (zukünftige) Berufsschullehrkraft? Wie kann sich dieses Wissen auf unser Denken und Handeln auswirken? Wie können wir als Lehrer*innen schließlich mit diesem Wissen im Klassenraum und darüber hinaus handeln? Zur Annäherung an diese Fragen finden Sie im Folgenden Aufgabenstellungen, die Ihnen dabei helfen, sich mit dem Thema weiter vertraut zu machen.
Erklären Sie in eigenen Worten den Unterschied zwischen dem medizinischen und dem sozio-kulturellen Modell von Behinderung.
Recherchieren Sie nach einem Beispiel von Ableismus im (Berufs)Schulalltag. Stellen Sie das Beispiel vor und erklären, wo sich darin Ableismus zeigt. Stellen Sie hierbei bitte auch Bezüge zum Text und den darin genannten Autor*innen her.
Unter dem Hashtag #AbleismTellsMe tauschen sich behinderte Menschen auf sozialen Netzwerken wie Twitter oder Instagram über ihre Alltagserfahrungen mit Diskriminierung aus. Ihren Anfang nahm die Bewegung im Jahr 2020 mit dem ersten Tweet der behinderten Studentin Kayle Hill in den USA und ist, besonders im deutschsprachigen Raum, auf breite Resonanz getroffen.
Suchen Sie auf Twitter, Instagram oder TikTok nach diesem Hashtag und lesen Sie sich etwas in die Beiträge ein. Beantworten Sie anschließend folgende Fragen: 1. Welche Diskriminierungsgründe werden häufig beklagt? 2. Welche Forderungen stellen die Betroffenen an die Gesellschaft und nicht-behinderte Menschen? 3. Welche Bezüge lassen sich aus der Lerneinheit und Ihrer Recherche herstellen? Bitte machen Sie Screenshots der von Ihnen gewählten Hashtags und bauen diese sinnvoll in Ihre Antwort ein.
Falls Sie nicht auf die Dienste sozialer Medien für die Bearbeitung dieser Aufgabe zugreifen möchten, können Sie gerne eine Recherche im Netz zu Artikeln über die Bewegung machen und grundlegende Erkenntnisse in eigenen Worten wiedergeben.
Auch hier bitte immer mit Quellenangaben arbeiten.
- Aktion Mensch (o.J.): Was ist Ableismus? Verfügbar unter: https://www.aktion-mensch.de/dafuer-stehen-wir/was-ist-inklusion/ableismus [Zugriff 10.11.2022].
- Brehme, D., Fuchs, P., Köbsell, S., Wesselmann, C. (2020). Disability Studies im deutschsprachigen Raum. Zwischen Emanzipation und Vereinnahmung (1. Auflage ed.). Weinheim: Beltz Juventa.
- Hermes, G. (2013). Web-Artikel auf dem Portal DISTA. Disability Studies Austria / Forschung zu Behinderung, Österreich. Gefunden am 14. Juni 2021 unter: https://dista.uniability.org/glossar/disability-studies-2/
- Hirschberg, Marianne (2012): Menschenrechtsbasierte Datenerhebung – Schlüssel für gute Behindertenpolitik. Anforderungen aus Artikel 31 der UN-Behindertenrechtskonvention. Berlin: Deutsches Institut für Menschenrechte.
- Flieger, Petra; Schönwiese (2011). Menschenrechte. Integration. Inklusion. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
- International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) (2001). Online WHO: International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF). [Letzter Zugriff 14.06.2022].
- LeBrecht, J., Newnham, N. (2020). Crip Camp. Auszug aus einer Netflixdokumentation. Gefunden am 9. Juni 2021 unter: https://www.youtube.com/watch?v=XRrIs22plz0&t=111s.
- Leyendecker, Christoph (2005). Motorische Behinderungen: Grundlagen, Zusammenhänge und Förderungsmöglichkeiten. Stuttgart.
- Maskos, Rebecca (2011). Bist Du behindert oder was?!“ Behinderung, Ableism und souveräne Bürger_innen. Vortrag online: https://www.zedis-ev-hochschule-hh.de/files/maskos_14122011.pdf. [Letzter Zugriff 14.06.2022].
- Maskos, Rebecca (2015). Ableismus und das Ideal des autonomen Fähig-Seins in der kapitalistischen Gesellschaft. In: Editorial zum Heftthema Ableism: Behinderung und Befähigung im Bildungswesen. Zeitschrift für Inklusion, (2). Pfahl, L.Abgerufen von https://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-online/article/view/306. S.
- Maskos, Rebecca (2020) Warum Ableismus Nichtbehinderten hilft, sich „normal“ zu fühlen. Online: https://dieneuenorm.de/gesellschaft/ableismus-behindertenfeindlichkeit/ [Letzter Zugriff 10.11.2022].
- Rübel, Jan. (2020). Web-Artikel. Gefunden am 9. Juni 2021 unter: https://dieneuenorm.de/gesellschaft/crip-camp-behindertenrechtsbewegung/
- Schmahl, Stefanie (2007), Menschen mit Behinderungen im Spiegel des internationalen
Menschenrechtsschutzes, in: Archiv des Völkerrechts 45, S. 517-540. - Waldschmidt, Anne. (2005). Disability Studies: individuelles, soziales und/oder kulturelles Modell von Behinderung? Psychologie- und Gesellschaftskritik, 29(1), 9-31. Online: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-18770
- Degener, Theresia. (2003). Behinderung neu denken. Disability Studies als wissenschaftliche Disziplin in Deutschland. In: Disability Studies in Deutschland – Behinderung neu denken! Dokumentation der Sommeruni Hermes, Gisela & Köbsell, Swantje (Hg.).
- Priestley, M. (2003). Worum geht es bei den Disability Studies? Eine britische Sichtweise. In: Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Disability Studies. Waldschmidt, Anne (Hg.). Tagungsdokumentation: Kassel. S. 23-35
- UN-Behindertenrechtskonvention § 24 Abs. 1 (o.J.). Online Institut für Menschenrechte:
https://www.institutfuermenschenrechte.de/fileadmin/Redaktion/PDF/DB_Menschenrechtsschutz/CRPD/CRPD_Konvention_und_Fakultativprotokoll.pdf [Letzter Zugriff 15.06.2022]. - Waldschmidt, Anne (2003). Behinderung neu denken: Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Disability Studies. In: Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Disability Studies. Waldschmidt, Anne (Hg.). Tagungsdokumentation. Kassel. S. 11 – 22
- Waldschmidt, Anne (2008). „Wir Normalen“ – „die Behinderten“? Erving Goffman meets Michel Foucault. In: Die Natur der Gesellschaft: Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006. K.-S. Rehberg (Hg.). Teilbd. 1 u. 2 (S. 5799-5809). Frankfurt am Main: Campus Verl. https://www.ssoar.info/ssoar/bitstream/handle/document/18436/ssoar-2008-waldschmidt-wir_normalen_-_die_behinderten.pdf?sequence=1&isAllowed=y&lnkname=ssoar-2008-waldschmidt-wir_normalen_-_die_behinderten.pdf. [Letzter Zugriff 14.06.2022].
- Walter-Klose, Christian (2020). Körperbehinderung. Online: https://www.socialnet.de/lexikon/Koerperbehinderung#quelle_ref. [Letzter Zugriff 14.06.2022].
- Videotalk: Moving at the Speed of Trust: Disability Justice and Transformative Justice. Leah Lakshmi Piepzna-Samarasinha and Elliott Fukui: https://bcrw.barnard.edu/event/moving-at-the-speed-of-trust-disability-and-transformative-justice/
„My Body Is Not For You To Exam“ Perspektiven von Frauen/ Queers of Color auf Rassismus – Ableism/ Behinderung / Heteronormatitvität: https://www.uni-goettingen.de/de/%22my+body+is+not+for+you+to+exam%22+/130463.html - Blog der Comedian und Disability-Aktivistin Rebecca Maskos: https://rebecca-maskos.net/
- Blog der Organisation „Selbstbestimmtes Leben in Bremen“:
https://www.slbremen-ev.de/ - Stella Young, Comedian und Disability-Aktivistin: I’m not your inspiration: https://www.youtube.com/watch?v=8K9Gg164Bsw
- https://www.familienratgeber.de/lebensphasen/bildung-arbeit/ausbildung-behinderung.php
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