Modul 9 | Klassismus/Armut

Klassismus/Armut

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Meine Motivation für diese Arbeit ziehe ich aus zwei Momenten. Das erste liegt in der Zielgruppe selbst. Die Jugendlichen, die mir in meiner Arbeit begegnen, sind widerständig, rebellisch, aufmüpfig, kritisch, begierig, fordernd, zugänglich, witzig, ausdauernd, kreativ, gescheit, anregend, hoffnungsvoll. Obwohl sie ganz und gar nicht die besten Karten für das Leben haben, ist ihnen die Welt nicht wurscht; was in ihr und mit ihnen geschieht, geht sie was etwas an. Sie in ihrer Weltfindung und -gestaltung zu erleben, ist wunderbar. Das zweite Moment folgt aus meiner eigenen Biografie. Als Kind einer Arbeiterfamilie, für die Bildung immer nur etwas für die anderen war, ist mein erreichter sozialer Status Ergebnis schieren Glücks. Gleichzeitig kann ich mich an den Augenblick erinnern, in dem ich mit Bildung in Resonanz getreten bin.

Ich habe in meiner Unterrichtstätigkeit einerseits erkannt, dass es nicht „Intelligenz“ ist, die darüber entscheidet, welcher Bildungsweg eingeschlagen werden kann und wird, sondern im Wesentlichen die soziale Herkunft. Wenn mensch aus keinem akademischen Haushalt kommt, in dem ein höherer Bildungsweg mitunter selbstverständlich ist, ist vor allem Glück ausschlaggebend für eine erfolgreiche Bildungsbiografie. Andererseits habe ich erkannt, dass Bildung unabdingbar für Weltgestaltung ist. Beide Erkenntnisse sind für mich wichtig, um im Sinne einer emanzipatorischen und kritischen Bildung tätig zu sein.“ (Aumair, 2021, S. 222)

Betina Aumair, von der das Zitat stammt, ist in der außerschulischen Aus- und Weiterbildung für Jugendliche und junge Erwachsenen tätig. Ebenso wie in der außerschulischen Bildungsarbeit gibt es auch in der Berufsschule Vorbehalte und diskriminierende Praktiken gegenüber Jugendlichen aus gesellschaftlich schlechter angesehen sozialen Positionen auch und trotzdem anteilig viel mehr Schüler*innen der Berufsschule aus nicht akademischen Haushalten und Arbeiter*innenfamilien kommen (vgl. Thielen 2014). Die Kleidung, die Sprache, das körperliche Auftreten verraten viel über den gesellschaftlichen Stand einer Person und – wie Aumair beschreibt – gerade für Bildungserfolge ist in Deutschland die soziale Herkunft entscheidend – mehr als tatsächliche Intelligenz oder Fleiß. Damit wie in dem eben genannten Beispiel nicht Glück über schulischen oder beruflichen Erfolg entscheidet, brauchen Pädagog*innen ein Wissen über klassistische Zuschreibungspraktiken und den damit einhergehenden Diskriminierungen und Ausschlussmechanismen. Die folgende Lerneinheit führt in dieses Wissen ein.

„Hochkommen ist schwer…

 

… sei es, weil das Mädchen aus der Hartz4-Familie keine Empfehlung für das Gymnasium bekommt. Sei es, weil der Junge aus der Hochhaussiedlung nicht das Selbstbewusstsein aufbringt, das Kindern aus der Villengegend bereits in die Wiege gelegt ist. Es ist ein Unterschied, ob man zwischen Büchern oder vor dem Fernseher aufwächst“ (Deutschlandradiokultur, Frank, Arno 2021).

Diese Unterschiede des Aufwachsens, wie sie sich auf die Gewohnheiten und Selbstverständlichkeiten im Alltag in Individuen einschreiben und auswirken, wurden von dem Soziologen Pierre Bourdieu Ende der 1980er-Jahre als die „feinen Unterschiede“ (Bourdieu, 1989) beschrieben. Diese Unterschiede, wie sie sich laut Bourdieu im Habitus eines Menschen materialisieren, sind in Alltagspraxen und Institutionen eingeschrieben und strukturieren unser Handeln und unsere Wahrnehmung gleichermaßen: „Der Habitus ist Erzeugungsprinzip objektiv klassifizierbarer Formen von Praxis und (gleichzeitig) Klassifikationssystem (principium divisionis) dieser Formen“ (Bourdieu, 1989, S. 277). Der Habitus ist das Klassenunbewusste (vgl. Kemper, 2021): Er ist automatisiert und wird in den ersten Lebensjahren hergestellt, er strukturiert gesellschaftliche Verhältnisse und verweist Menschen auf bestimmte (Klassen-)Positionen innerhalb von gesellschaftlichen Strukturen.

Klassismus ist eine Ideologie, welche Francis Seeck und Brigitte Theißl (2021) in Anlehnung an Kemper und Weinbach (2009) und Roßhart (2016) als „Unterdrückungsform, als Abwertung, Ausgrenzung und Marginalisierung entlang von Klasse“ (Seeck und Theißl, 2021, S. 11) verstehen. Klassismus dient der Aufrechterhaltung von Klassenunterschieden und sichert damit bestehende Machtungleichheitsverhältnisse. Beispielsweise haben von Klassismus betroffene Menschen erhebliche Nachteile auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt, geringere Gesundheits- und Lebenserwartungen und verfügen über weniger Macht, Teilhabe und Geld. Diskriminierung findet aufgrund einer zugeschriebenen Klassenherkunft und -zugehörigkeit aus Armuts- und Arbeiter:innenklassen statt (vgl. ebd. S. 12).

Der Begriff Klassismus wurde in Kämpfen amerikanischer lesbischer Feminist:innen in den 1970er-Jahren geprägt. Besonders Schwarze Feminist:innen wie bell hooks (2020) haben schon sehr früh auf Klassenunterschiede und Diskriminierung aufmerksam gemacht und darüber hinaus das Zusammenwirken von unterschiedlichen Kategorien wie Klassismus und Rassismus erforscht (vgl. hooks, 2020). Klassismus meint die Diskriminierung und Unterdrückung von Menschen, denen eine bestimmte soziale Position in der Gesellschaft zugeschrieben wird. Es ist diejenige (Klassen-)Position, die wiederholt als dumm, faul oder etwa kriminell beschrieben wird (vgl. Seeck, 2021, S. 17). Durch diese Attribute werden Ausschlüsse nicht nur produziert, sondern immer wieder stabilisiert und damit Klassenunterschiede verfestigt und abgesichert. Diese Szenen finden überall im Alltag statt: auf der Straße, bei der Ärztin, im Klassenzimmer, im Bewerbungsprozess, beim Schulwechsel, in Gesprächen mit Kolleg:innen, Nachbar:innen und Lehrer:innen.

Geschlechter- und Klassismusforscher:in [1] Francis Seeck ist selbst in der sogenannten „Armutsklasse“ aufgewachsen und hat Klassismus so selbst erlebt. Seeck schreibt, lehrt und forscht zu Klassismus und seinen Verästelungen in unserer Gegenwart. In einem Radiobeitrag von Deutschlandradiokultur beschreibt Francis Seeck, wie sich der Alltag durch die wissenschaftliche Laufbahn und vor allem durch den Antritt einer Vertretungsprofessur grundlegend änderte:

„Wenn ich sage, ich vertrete gerade eine Professur, ist es manchmal schwer, überhaupt aus der Arztpraxis wieder rauszukommen. Weil mir dann einfach sehr viele Fragen gestellt werden: Oh, wie haben Sie das denn geschafft? In Ihrem Alter? Das ist ja toll. Man wird dann auch mit Lob überhäuft. Das ist das Gegenteil von dem, was ich aus meiner Jugend und Kindheit kenne, nämlich dass es sehr schwer ist, eine angemessene ärztliche Behandlung zu erfahren, wenn man in Armut lebt. Dann werden auch sehr viel von den gesundheitlichen Problemen immer auf die eigene Lebensweise zurückgeführt. Da wird dann oft der Grund eher bei einem selbst gesucht wird und man bekommt keine gute gesundheitliche Behandlung.“ (Seek, 2020).

Die enge Verzahnung von diskriminierenden und verletzenden Zuschreibungen und tatsächlichen strukturellen Benachteiligungen strukturiert den Alltag von Betroffenen auf beklemmende Art und Weise und beengt den Raum der Handlungsmöglichkeiten sowie die Vorstellungen davon, was überhaupt möglich ist. Die Zuschreibung von außen, dass Armutsbetroffene selbst schuld seien, wenn sie krank werden, und dass sie nicht gut genug auf sich geachtet hätten, ist in der Bundesrepublik Deutschland allgegenwärtig (vgl. Seeck et al., 2022). Durch diese Art von Zuschreibungen wird über die Achse Armut eine Gruppe hergestellt, deren Individuen zwar höchst unterschiedliche Lebenserfahrungen und Sichtweisen mitbringen, aber durch die Fremdzuschreibung als Gruppe der „Armen“ oder auch abwertend als „Unterschicht“ vereinheitlicht werden. In dieser gesellschaftlich konstruierten Gruppe erleben Menschen dann diskriminierende Begegnungen wie u. a. bei der Ärztin, beim Amt oder in der Schule, die sie immer wieder auf ihre Klassenzugehörigkeit zurückwerfen.

Erst durch den Eintritt in eine andere Klasse, beispielsweise durch einen Bildungs- oder Berufsaufstieg oder eine Verbesserung der sozioökonomischen Situation – oder um es weniger klassistisch auszudrücken und sich der Binarität oben/unten zu widersetzen: durch eine Klassenreise (Aumair & Theißl, 2020) – erfahren Menschen ganz andere Begegnungen, Aufmerksamkeiten und Zuwendungen. Dennoch bleibt auch hier meist ein Gefühl der Fremdheit und des Nicht-Dazugehörens: Die plötzliche und wesentlich respektvollere Andersbehandlung erleben klassismuserfahrene Menschen oft weiterhin verunsichernd. In Erzählungen und Fachliteratur wird immer wieder von dem sogenannten Hochstapler:innen-Gefühl berichtet:

„Selbst wer den Aufstieg aus den bildungsfernen Schichten geschafft hat, […], kommt nur selten wirklich an. Weit verbreitet ist hier das Hochstaplersyndrom – das Gefühl, das bessere Leben nicht wirklich verdient zu haben, und die Furcht, als Emporkömmling entlarvt zu werden“ (Deutschlandradiokultur, Frank, Arno, 2021).

Zur Klassenzugehörigkeit gehören auch Fragen danach, wer über wie viel und welches soziale Kapital (Vitamin B) verfügt oder wer überhaupt als Partner:in infrage kommt – ein Beispiel für Letzteres sind Dating-Plattformen wie Elitepartner.de. Klassenzugehörigkeit wird somit auf unterschiedlichen Ebenen sichtbar. Die Verinnerlichung bestimmter Vorstellungen, wie sich Menschen „richtig“ und entsprechend ihrer Klassenzugehörigkeit zu verhalten und zu zeigen haben (siehe oben: Habitus von Bourdieu), erschwert zudem den Zugang zu anderen Statuspositionen und dem damit einhergehenden sozialen Kapital. Der Übergang von einer „niedrigen“ in eine „höhere“ Klasse ist so in einer vermeintlichen Leistungsgesellschaft nur scheinbar durchlässig. Indem klassistisch benachteiligte Menschen für ihre gesellschaftliche Position selbst verantwortlich gemacht werden, ist die engmaschig abgesicherte Verhinderung der Statusveränderung kaum wahrnehmbar (vgl. Bourdieu, 1989). Durch abgrenzende, symbolische Distinktionsmerkmale wie Sprache und Kleidung oder eben auch durch „härtere“ Währungen wie Gebühren, Mieten und Clubmitgliedschaften wird vorsortiert, wer dazugehört und wer ausgeschlossen bleibt. All dies führt auf struktureller Ebene zu unterschiedlichen Bildungschancen, aber auch zu Benachteiligungen auf dem Arbeits- oder Wohnungsmarkt oder im Gesundheitssystem.

Klassismus bezeichnet demnach die systematische Benachteiligung und den Ausschluss aufgrund der Abwertung einer sozialen Herkunft sowie bestimmter sozialer und ökonomischer Positionen eines Menschen. In vielen kapitalistischen Gesellschaften sind Klassenposition und gesellschaftlicher Erfolg miteinander verknüpft und sorgen dafür, dass Klassenunterschiede sich weiterhin durchsetzen und gesellschaftliche Strukturen trotz zahlreicher Programme und Maßnahmen zur Herstellung von Chancengleichheit letztlich weiter zu ihrem Gegenteil beitragen: der Chancenungleichheit (Kemper & Weinbach, 2009).

Fußnote:
[1] Seeck verwendet keine Pronomen.

Klassismus und Chancen(un)gleichheit in der Bildung

 

„In der allgemeinsten Bedeutung bezeichnet Chancengleichheit die prinzipielle Chance eines Menschen auf Gleichheit in einer von Chancenungleichheit geprägten Gesellschaft. Chancengleichheit beschreibt in modernen Gesellschaften das Recht auf eine gerechte Verteilung von Zugangs- und Lebenschancen“ (Sattler, 2000, S. 59).

Schule und Bildungssystem erweisen sich immer noch als Stabilisatoren sozialer Ungleichheit (vgl. Sattler, 2006). Der Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungserfolg wurde durch eine Reihe von Studien intensiv erforscht. Das Ergebnis ist immer das gleiche: Kinder von Eltern mit Hochschulabschluss haben es deutlich leichter, eine Gymnasialempfehlung zu erhalten, als etwa Kinder aus Arbeiter:innenfamilien. Diese Tendenz setzt sich an der Hochschule fort (vgl. Kemper, 2021).

Wenn so getan wird, als ob jede:r das gleiche Recht und die gleichen Chancen hätte, ihre:seine Persönlichkeit zu entfalten, dann wird das Erreichen und Gelingen von Erfolg am einzelnen Menschen bemessen und das Nicht-Gelingen dementsprechend personalisiert und individualisiert. Durch den Mechanismus der Individualisierung geraten strukturelle Diskriminierungen aus dem Blick. Dem Leistungsprinzip kommt in dieser Erzählung eine zentrale und höchst problematische Funktion zu, die jedoch schon seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts abgelösten Ständeordnung verschwiegen wird. Offiziell ermöglichte das Ende der Ständeordnung die Statusmobilität von Menschen. Zugleich hielten und halten gegebene Ressourcenverteilungen und -zugänge bestehende soziale Verhältnisse aufrecht (vgl. Sattler, 2006, S. 59). Das Leistungsprinzip (Meritokratie) stellt ein zentrales Merkmal demokratischer neoliberaler Gesellschaften dar und legt Ideen einer vermeintlichen Chancengleichheit nahe.

Leistungsprinzip

Mit dem Zeitalter des Liberalismus wurde „Leistung“ ein zentrales gesellschaftliches Ordnungsprinzip. „Was eine Person besitzt, welche soziale Stellung jemand innehat und welche Karriere sie oder er einschlagen kann, sollte nicht länger durch das ständische Prinzip der Herkunft bestimmt werden und auch nicht durch unveränderliche Merkmale wie Hautfarbe, Alter oder Geschlecht, sondern allein das Ergebnis der eigenen Arbeit und Leistung sein. Mit dem Aufstieg des Bürgertums entstand so das ideelle Modell der „Leistungsgesellschaft“, welches für das ganze Industriezeitalter verbindlich wurde, und das bis heute das Selbstverständnis moderner Nationen prägt.“ (Neckel, 2012). „Die Wahrheit ist, dass wir in Bezug auf Bildung keine Leistungsgesellschaft sind, sondern nach wie vor eine Erbgesellschaft“ (Aumair, 2021, S. 222).

Der Ruf nach „Chancengleichheit“ ist von einer langen Geschichte geprägt, in die von Beginn an Ungleichheit eingeschrieben war. Denn dort, wo es um den Herstellungsprozess von Chancengleichheit geht, muss es entsprechend erst einmal Ungleichheit geben. Konkret bedeutet das, dass jeder (bildungs)politischen Maßnahme, die neoliberal orientiert ist, logisch und empirisch Ungleichheit zugrunde liegt. „Denn auch ein 100-Meter-Lauf erweist sich nur dann als sinnvoll, wenn nicht alle die gleiche Chance haben zu gewinnen und nicht alle gleichzeitig ankommen. So ist die Forderung nach Chancengleichheit ein Indikator dafür, dass es Ungleichheit gibt und geben soll“ (Sattler, 2006, S. 61). Derartige Überlegungen ergeben nur Sinn, weil im Konzept der Chancengleichheit Gleichheit und Gerechtigkeit als identisch verstanden werden. Diese Herangehensweise legt nahe, dass es ein Problem wäre, wenn alle gleichzeitig ans Ziel kommen. Da Menschen allerdings ungleich, aber gleichwertig sind, verdienen alle Menschen in einem Verständnis der Chancengerechtigkeit ungleiche, aber für sie passende Bedingungen für den beispielhaften 100-Meter-Lauf.

Dass Chancengerechtigkeit in der Erzählung der Chancengleichheit eher verdeckt wird, ist wesentlich für die Herstellung gesamtgesellschaftlicher Ungleichheitsverhältnisse, die besonders auch in der Bildung sehr wirksam werden. Der Herstellung von Chancengleichheit über Bildung kommt eine besondere Bedeutung zu. Erste Versuche, durch Bildung Chancengleichheit herzustellen, lassen sich in den 1960er- und 1970er-Jahren ausmachen: Die Formel „Bildung ist Bürgerrecht“ (Dahrendorf, 1968) weist auf eine demokratiepolitische Wende hin, mit der dem Bildungssystem eine bedeutende Rolle in der Zuteilung sozialer Chancen zugeschrieben wird. Gesellschaftliche (Un-)Gleichheit wurde zunehmend als Folge bildungspolitischer Maßnahmen verstanden und interpretiert. Auf diesem Wege etabliert sich mehr und mehr die Erkenntnis, dass die schulische Selektion nicht nur die Bildungschancen, sondern auch die Lebenschancen von Menschen bestimmt und festlegt (vgl. Sattler, 2006, S. 60). Darauf aufbauend starteten westliche Industrieländer Bildungsreformen, mit denen Bildungsgerechtigkeit mithilfe von Chancengleichheit hergestellt werden sollte, um so zu einer gerechter (empfundenen) Gesellschaft beizutragen. Dieser Ansatz vernachlässigt jedoch den vereinheitlichenden Charakter des Konzepts der Chancengleichheit, der sich stark und stillschweigend an männlichen, eurozentrischen und bürgerlichen Idealvorstellungen orientiert (vgl. Dzierzbicka & Sattler, 2007, S. 53). Wenn es um Bildungsgerechtigkeit geht, geht es darum, jeden Menschen darin zu stärken, dass er:sie ein Bildungsniveau erreichen kann, das ihm:ihr ein gutes Leben ermöglicht. Das bedeutet laut Johannes Giesinger (2007), dass Menschen, losgelöst von ihrer sozioökonomischen Positionierung, ihrem Geschlecht oder ihrer natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeit, nur auf Basis ihrer Fähigkeiten [1] darin gefördert werden sollen, ein höheres Bildungsniveau zu erreichen. Fähigkeiten meinen nach diesem Verständnis die faktischen Möglichkeiten einer Person, Leistung zu erbringen. Ungerechtigkeit entsteht dann, wenn Menschen mit ähnlichen Fähigkeiten unterschiedliche Bildungsniveaus erlangen, weil sie aufgrund ihrer strukturellen gesellschaftlichen Positionierung benachteiligt werden. Ein Leistungsprinzip nach diesen Vorstellungen von Bildungsgerechtigkeit bedeutet also, dass Menschen Bildungserfolge und Berufsabschlüsse erreichen können, für die sie faktisch am geeignetsten sind – unabhängig davon, ob sie beispielsweise weiß oder männlich sind oder von reichen Akademiker:inneneltern abstammen (vgl. Giesinger, 2007, S. 379).

In diesen Rahmen sind auch die Bemühungen von Schulen, Lehrkräften, pädagogischen Fachkräften in schulischen, außerschulischen und berufsschulischen Zusammenhängen einzuordnen. Bildungsinstitutionen sind ambivalente Orte, die die Absicherung von Ungleichheit mittragen und in ihrer Selektionsfunktion teils auch zum Zweck haben (vgl. Sattler, 2006). Gleichzeitig können Pädagog:innen innerhalb der von Klassismus geprägten schulischen Bedingungen auch zu einer möglichen Veränderung der strukturellen Ungleichheiten durch pädagogisches Denken und Handeln beitragen. Damit sich (Berufsschul-)Lehrpersonen klassismussensibel bewegen können, kann es helfen, die unterschiedlichen Prämissen von Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit zu reflektieren und sich bewusst zu machen, dass mit der Idee der Chancengleichheit Schüler:innen als Einzelpersonen für ihren Bildungserfolg verantwortlich gemacht werden – schließlich haben sie jetzt ja gleiche Chancen. Scheitern und Versagen ist in der Logik der Chancengleichheit nicht strukturell bedingt, sondern dem Individuum zuzuschreiben, das seine Chancen bitte richtig zu nutzen habe. Dass dem – auch nach zahlreichen Bildungsreformen seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – nicht so ist, zeigt sich daran, dass der Einfluss der sozialen Herkunft auf die Chancen im Bildungssystem und den daran geknüpften möglichen sozialen Aufstieg nicht wesentlich abgenommen hat.

Fußnote:
[1] Aus ableismuskritischer Perspektive lohnt sich die Auseinandersetzung mit dieser Überlegung (vertiefend Modul 10).

Verwobenheit von Klassismus mit anderen Differenzlinien

Klassismus und andere Diskriminierungsformen überlappen und verschränken sich seit jeher. So ist die Existenz dieser Verwobenheiten kein neues Phänomen, allerdings wird es erst in den letzten Jahren verstärkt – unter dem Begriff Intersektionalität – benannt und vor allem konkret analysiert. Häufig verschränkt sich Klassismus mit anderen Differenzlinien wie u. a. race, gender und Behinderung (hooks, 2020; Crenshaw, 2019b; Hill Collins & Bilge, 2020). Menschen, die beispielsweise sowohl klassistische als auch rassistische Diskriminierung erfahren, werden oft mit sehr ähnlichen Zuschreibungen abgewertet. Gleichzeitig verstärken sich die Benachteiligungen durch die mehrfachen Diskriminierungen. Migrant:innen arbeiten beispielsweise besonders oft im Niedriglohnsektor und sind demnach noch stärker von Armut gefährdet als weiße Menschen. Mehrfach marginalisierte Menschen laufen Gefahr, geringere formale Bildungsabschlüsse zu erhalten und verfügen über weniger ökonomische Ressourcen oder (anerkannte) soziale Kontakte, wodurch sich Benachteiligungen zusätzlich verschärfen und die „Erfolgschancen“ deutlich eingeschränkt werden (vgl. Seeck, 2022, S. 90 f.). Seeck verweist darauf, dass in den letzten Jahren in einer Reihe von Publikationen nachgewiesen wurde, dass soziale Mobilität für bestimmte Gruppen – insbesondere für Arbeiter:innenkinder, Migrant:innen und People of Color – schwerer und unwahrscheinlicher ist. Das gilt selbst bei gleichen oder ähnlichen formalen Voraussetzungen wie Notendurchschnitten, Schulabschlüssen oder Ausbildungen (vgl. Seeck, 2022, S. 41 ff.). Damit geht einher, dass Klasse als Diskriminierungskategorie oft mit bestimmten Gedanken, Gefühlen, Grenzen und (Un-)Möglichkeiten in Biografien und Lebenssituationen einhergeht, welche zugleich immer mit anderen Achsen der Benachteiligung und Befähigung zusammenspielen. Für (Berufsschul-)Lehrpersonen ist es wichtig, dieses intersektionale Zusammenwirken zu erkennen und sowohl sich selbst als auch Schüler:innen dafür zu sensibilisieren (vgl. Moser, 2021).

Marc Thielen (2014) hat in diesem Zusammenhang in einer Berufsvorbereitungsklasse folgende Beobachtung gemacht: Das äußere Erscheinungsbild, das auch etwas über die soziale oder kulturelle Herkunft mitteilt, wird einer Bewertung durch die Lehrperson unterzogen und Anregung gegeben, sich „anders“ und „angemessener“ zu kleiden/stylen:

„Der Lehrer nutzt im Unterricht das begonnene Gespräch mit dem Schüler Rafik, um sich mit ihm über dessen Chancen auf einen Praktikumsplatz zu unterhalten. Er weist Rafik darauf hin, dass er ihn angesichts seiner Frisur für schwer vermittelbar halte. Rafik trägt ganz kurz geschorene Haare. Gerade ‚ältere Herren‘ in Betrieben hätten vermutlich Vorbehalte, einen solchen jungen Mann einzustellen und würden vermutlich doch lieber auf einen Mitbewerber zurückgreifen. Erik schaltet sich in das Gespräch ein und meint mit Blick auf die Auswahl nach körperlichen Äußerlichkeiten empört: ‚Das ist doch verboten!‘ Der Lehrer gibt ihm zwar Recht, verweist jedoch darauf, dass dies manche Arbeitgeber dennoch so praktizierten, aber andere Gründe für eine Absage angäben. Erik verschärft daraufhin seine Kritik und meint, dass ein solches Verhalten ‚rassistisch‘ sei. Dies kann der Lehrer nun nicht ganz nachvollziehen. Er erklärt den Jugendlichen, dass sie sich die Haare gestalten könnten, wie sie wollten (‚Ihr könnt die euch von mir aus grün färben!‘), er sie dann aber nicht ins Praktikum vermitteln könne.“ (Beobachtungsprotokoll) (Thielen 2014, S. 98).

Thielen arbeitet in einer nachfolgenden Analyse der Beobachtung Folgendes heraus: Rafik wird von der Lehrperson durch sein Aussehen und seine ethnische und soziale Herkunft der „Unterschicht“ zugeordnet. Ihm wird empfohlen, sich in seinem Auftreten den Stilvorstellungen der Mittelschicht anzupassen. Durch Eriks Hinweis auf Rassismus ist naheliegend, dass neben Klassismus hier auch rassistische Stereotype eine Rolle spielen. Zudem wird deutlich, dass das Zusammentreffen dieser Differenzlinien zu weiteren Hindernissen beim Zugang zum Ausbildungs- und Arbeitsmarkt führen könnte. Ob es wirklich die einzige Möglichkeit der Lehrperson ist, seine Schüler:innen auf die Arbeitswelt vorzubereiten, indem sie dazu angehalten werden, ihre soziale und kulturelle Herkunft zu kaschieren, ist sehr fragwürdig. Vielmehr ginge es im Sinne einer differenzsensiblen Lehre darum, die Wirkmechanismen von Klassismus und weiteren Differenzkategorien mit den Schüler:innen zu besprechen und mit ihnen gemeinsam zu überlegen, welche Optionen sie haben, um damit umzugehen und wie Lehrer:innen sie darin auch unterstützen können. (Berufsschul-)Lehrpersonen können sich zur Selbstreflexion fragen, was das Wissen um Klassismus und seine Verschränkungen zu anderen Differenzlinien wie race, gender, Alter für die eigene Arbeit als (zukünftige) (Berufsschul-)Lehrperson bedeutet und wie sich dieses Wissen auf das eigene Denken und Handeln auswirkt. Wie können sie selbst als Lehrer:innen schließlich mit diesem Wissen im Klassenraum handeln?

Einleitende Gedanken – Bezug zum Berufsschulalltag:
Was bedeutet das Wissen um Klassismus und seine Verschränkungen zu anderen Differenzlinien wie race, sex/gender, Alter für meine Arbeit als (zukünftige) Berufsschullehrkraft?
Wie wirkt sich dieses Wissen auf mein Denken und Handeln aus? Wie kann ich als Lehrer*in schließlich mit diesem Wissen im Klassenraum handeln?

Aufgabe

Analysieren Sie konkrete Beispiele von Klassismus in verschiedenen gesell- schaftlichen Bereichen wie Bildung, Beschäftigung, Wohnen Untersuchen Sie, wie Klassismus soziale Ungleichheit und strukturelle Benachteiligung beeinflusst. Diskutieren Sie mögliche Lösungsansätze oder Maßnahmen zur Bekämpfung von Klassismus, insbesondere im Kontext Bildung. Stellen Sie dabei sicher, dass Ihre Arbeit auf fundierten Quellen basiert und verschiedene Perspektiven berücksichtigt.

Aufgabe 2

Arbeit mit Fallbeispiel: Suchen Sie in dem Ihnen schulischen Alltag nach einem Beispiel, an dem Sie erläutern könnten, was Klassismus bedeutet. Die Person, der Sie Klassismus erklären, ist ein Lehrer in einer anderen Schulklasse in Ihrem Kollegium. Wählen Sie Ihr Sprachregister entsprechend und nutzen Sie Begriffe wie Diskriminierung, Ausschluss, Klasse, differenzsensibel, Differenzkategorie, Bildungsbiographie. Erläutern Sie jedoch diese Begriffe so, dass sie auch verständlich werden für einen Lehrerkollegen, der sich noch nicht so intensiv mit Diversität und Differenz beschäftigt hat. Es können daher kleine Nebensatzerläuterungen eingefügt werden, um das Verständnis zu erleichtern.

Literatur
  • Aumair, Betina. (2020). Bildung und soziale Ungleichheit: Impulse für eine klassismuskritische außerschulische Bildungsarbeit. In. Seeck, Francis; Theißl, Brigitte. (Hg.).(2020). Solidarisch gegen Klassismus. Münster: Unrast Verlag.
  • Bourdieu, Pierre. ([1979] 2020).Die feinen Unterschiede: Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft (23. Aufl. ed.). Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  • Dahrendorf, Ralf. (1968). Bildung ist Bürgerrecht. Plädoyer für eine aktive Bildungspolitik. Hamburg: –
  • Frank, Arno. 2021. (Web- Beitrag). Deutschlandradio Kultur, Ruprik: Identitätspolitik und Klassismus – Sie sagen Klasse, aber sie meinen es nicht so. Gefunden am 11.05.2021 unter: https://www.deutschlandfunkkultur.de/identitaetspolitik-und-klassismus-sie-sagen-klasse-aber-sie.1005.de.html?dram:article_id=497027.
  • Kemper, Andreas In. (Web-Beitrag), Deutschlandradio Kultur, Ruprik Zeitfragen: Die verachtete Unterschicht. Gefunden am 11.05.2021 unter: https://www.deutschlandfunkkultur.de/klassismus-die-verachtete-unterschicht.976.de.html?dram:article_id=497048.
  • Khakpour, Natascha, Mecheril, Paul. (2018). Klasse oder die Moralisierung des Scheiterns. In. İnci Dirim u.a.: Heterogenität und Bildung. Die Schule der Migrationsgesellschaft. Reihe Bildungswissenschaften. Bad Heilbronn: UTB. S. 133-158.
  • Mooser, Geneva. (2021). Klassismus und gemeinsame Ökonomie. Eine autobiographisch Annäherung. In. Solidarisch gegen Klassismus. Münster: Unrast Verlag.
  • Neckel, Sighardt (2012). Die Wirklichkeit des Leistungsprinzips: Ansprüche, Krisen, Kritik. In Online: Keynote Heinirich Böll Stiftung. https://www.boell.de/de/2012/07/13/die-wirklichkeit-des-leistungsprinzips-ansprueche-krisen-kritik. [Zugriff 10.05.2022].
  • Sattler, Elisabeth (2004). Chancengleichheit. In. Dzierzbicka, A., & Czejkowska, A. (2006). Pädagogisches Glossar der Gegenwart: Von Autonomie bis Wissensmanagement. Wien: Löcker.
  • Seek, Francis.(2021).(Web-Beitrag), Deutschlandradio Kultur, Ruprik Zeitfragen: Die verachtete Unterschicht. Gefunden am 11.05.2021 unter: https://www.deutschlandfunkkultur.de/klassismus-die-verachtete-unterschicht.976.de.html?dram:article_id=497048
  • Seeck, Francis; Theißl, Brigitte. (Hg.).(2020). Solidarisch gegen Klassismus. Münster: Unrast Verlag.
  • Seeck, Francis (2022). Zugang verwehrt. Zürich: Atrium Verlag.
  • Thielen, Mark (2014). Der pädagogische Umgang mit herkunfts- und milieubedingter
    Differenz im Zuge der Förderung von Ausbildungsreife in der Berufsvorbereitung. In: Sozialer Fortschritt. Vol. 63, No. 4/5. S 96-101.
Weiterführendes Material

Einführendes zum Thema Klassismus:

Homepages

Studien:

  • Bildungsministerium für Bildung und Forschung (BMBF) (2013): Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in Deutschland. Bonn/Berlin: Selbstverlag“
  • Lampert, Thomas, Hoebel, Jens / Kroll, Eric Lars (2019). Soziale Unterschiede in der Mortalität und Lebenserwartung in Deutschland. Aktuelle Situation und Trends. In: Journal of Health Monitoring 2019 4(1).

Belletristik:

Grundlagenwerke

Einführendes zur Verwobenheit von Klassismus mit anderen Differenzlinien:

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