Modul 5 |
Rassismus Grundlagen
Rassismus Grundlagen
#Kulturunterschiede #Gut gemeinter Rassismus #Kulturrassismus #interkulturelle Pädagogik #Berufsschule #Neorassismus #Rassismus ohne Rassen
Zum Thema „Kulturrassismus“ finden Sie in dieser Lehreinheit einen einführenden Text in die Thematik. Vorangestellt ist ein Fallbeispiel aus einer KFZ Klasse einer Berufsbildenden Schule aus dem Jahr 2020. In diesem Modul lernen Sie entlang dieses Fallbeispiels und der Differenzlinie Kultur den Ansatz des „Kulturrassismus“ theoretisch zu verorten und damit Ihren pädagogischen Blick für kulturrassistische Zuschreibungen zu schärfen. Im Anschluss an den Text finden Sie die Aufgabenstellungen zu dieser Lehreinheit.
- Einstieg
- Theorie
- Aufgabe & Reflexion
- Literatur
- Weiterführende Literatur
In diesem Fallbeispiel aus einer Unterrichtsstunde an einer Berufsschule in Norddeutschland finden Sie Praxen (Lehrer*innenhandeln), die im Folgenden mit dem Ansatz des „Kulturrassismus“ verknüpft und theoretisch verortet werden. Ziel ist es alternative Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln.
Ein Frühlingstag im Jahr 2020, Unterrichtsbeginn: 10:25, Unterrichtsdauer: 10:25 Uhr – 11:55 Uhr. Frau Müller arbeitet mit Schüler*innen der KFZ-Vorbereitungsklasse einer Berufsbildenden Schule im Fach Mathematik. Es sind circa 30 Schüler*innen anwesend, ungefähr 95 Prozent der Anwesenden identifizieren sich als männlich. Nächste Woche wird eine Klausur geschrieben.
Die meisten Schüler*innen sitzen bereits ein paar Minuten vor Beginn der Stunde an ihren Plätzen und unterhalten sich leise. Die Lehrperson, Frau Müller, steht vor der Klasse zwischen Tafel und ihrem Schreibtisch und schaut abwechselnd nach draußen auf den Schulhof und auf die Tür. Der Schulgong erklingt, Frau Müller schließt die Tür und geht zurück nach vorne, die Gespräche verstummen. Nach einer kurzen Begrüßung sagt sie: „Wir wollen heute die Matheklausur für die nächste Woche vorbereiten.“ Sie erläutert dazu weiter: „Ich habe für Sie drei verschiedene Aufgaben vorbereitet. Bei circa 30 Leuten heißt das, dass wir mit sechs Kleingruppen an drei Aufgabestellungen arbeiten.“
Frau Müller nimmt ihre Unterlagen vom Schreibtisch vor sich zur Hand und sagt: „Und ich habe mir für heute außerdem Folgendes überlegt: Ich würde gerne, dass Sie sich in Kleingruppen mit vier bis fünf Personen zusammenfinden und zwar so, dass diejenigen, die aus einem ähnlichen Kulturkreis oder aus einer gleichen Sprachgemeinschaft kommen sich in einer Gruppe zusammenfinden. Wir haben hier ja Türken, Araber, Polen, Russen und noch andere. Eine bunte Mischung. Ich denke, dass es für alle sehr hilfreich ist, wenn Sie sich da besser verständigen können und gemeinsam aus Ihren Erfahrungen schöpfen können, um an den Übungsbeispielen zu arbeiten. Wir führen die Kleingruppenarbeit dann später wieder im Plenum zusammen. Frau Müller geht um den Tisch herum und sagt: „Bitte finden Sie sich jetzt in Arbeitsgruppen zusammen. Bitte jeweils 4-5 Personen pro Gruppe, so dass wir auf sechs Gruppen kommen.“
Die Schüler*innen beginnen sich langsam umzuschauen und Augenkontakt aufzunehmen, andere rufen sich zu. Es lässt sich beobachten, dass einige nicht aufstehen und verunsichert zu sein scheinen. Andere wiederum laufen in der Klasse herum und versuchen sich zu finden. Schließlich greift Frau Müller ein: „Soraya…hm. Wenn Sie keine Gruppe finden, vielleicht schließen Sie sich einfach Robyn, Arya und Muri an, die Gruppe hätte noch Platz und in Afghanistan sprechen Sie meines Wissens ja die gleiche Sprache wie in Teheran und auch sonst habt Ihr bestimmt einige Gemeinsamkeiten.“ Soraya nimmt sich einen Stuhl und setzt sich zu den drei Mitschüler*innen, die schon Platz gemacht haben. Auch andere Schüler*innen, die sich nicht klar selbst zuordnen können, werden von Frau Müller zugewiesen. „Muhammad, geh doch bitte in die Gruppe von Mehmet. Sascha, du kannst irgendwo dazu, für dich gibt es hier vermutlich keine passende Gruppe.“ Frau Müller ist mit dem Austeilen der Aufgabenblätter fast fertig, die Schüler*innen haben begonnen, die Aufgaben zu lesen und es wird ruhiger.
Die Aussagen von Frau Müller: „Ich denke, dass es für alle sehr hilfreich ist, wenn Sie sich da besser verständigen können und gemeinsam aus Ihren Erfahrungen schöpfen können“ mit dem Verweis auf den „ähnlichen Kulturkreis“ und eine „gleiche Sprachgemeinschaft“ sind der Ausgangspunkt unserer Untersuchung. Dazu werden die Fragen, wie mit „Kultur“ in pädagogischen Settings umgegangen wird und wofür und wie sie genutzt wird, gestellt. Mit dem beschriebenen Fallbeispiel, welches im Jahr 2020 an einer Berufsschule in Norddeutschland von uns beobachtet wurde, lässt sich Kultur als Differenzlinie analysieren. Das heißt das Konzept Kultur wird als theoretische Kategorie benutzt, um herauszufinden, welche Funktion Kultur in Lehr-/Lernsituationen jeweils einnimmt, wenn direkt oder indirekt auf sie Bezug genommen wird. Kultur als Differenzlinie und Analysekategorie spielt hier vor allem für pädagogische Zusammenhänge eine zentrale Rolle, hängt aber letztlich mit gesellschaftlichen Verhältnissen und Strukturen zusammen. Bildungseinrichtungen sind ein Teil gesellschaftlicher Verhältnisse und (re-)produzieren diese.
Differenzlinie
Der Begriff ist in der kritischen Erziehungswissenschaft seit den späten 1980er Jahren in Gebrauch, um soziale Ungleichheiten und ihre (Wieder-)Herstellung und Verstärkung durch die Konstruktion von Differenzen zu untersuchen. Im Interesse der Untersuchungen von Differenzlinien steht dann nicht nur, wie sie durch Differenzkategorien entstehen, sondern auch was sie in der sozialen Wirklichkeit bewirken und erzeugen. Die so genannten Differenzlinien sind demnach Ergebnis von sozialen Konstruktionen, welche die gesellschaftliche Realität durchziehen und durchlaufen. Differenzlinien laufen nicht parallel, neben- oder untereinander, sondern durchkreuzen und überschneiden sich. (vgl. Lutz et al. 2001)
In pädagogischen Settings und Institutionen sind Lehrende täglich aufgefordert, sich zu Heterogenität und Differenz zu verhalten. Dabei ist ein angemessener, professioneller und diskriminierungssensibler Umgang mit der Differenzlinie Kultur unumgänglich und notwendig.
Notwendig ist die Auseinandersetzung insofern, als dass Schüler*innen jeden Tag durch die Art und Weise wie sie von den Lehrenden angesprochen werden, anerkannt und verkannt werden können. Rassistische (und andere diskriminierende) Praxen können sich an Orten wie dem Unterrichtsraum fortschreiben, anstatt dort rassistischen Praxen entgegenzutreten und Schüler*innen einen sicheren und diskriminierungsfreieren Raum des Lernens zu ermöglichen.
Rassistische Praxen zeigen sich auf sehr unterschiedliche Art und Weise, in unterschiedlicher Intensität und Ausprägung: „Täglich erleben Menschen in Deutschland Rassismus. Dieser zeigt sich von subtiler Alltagsdiskriminierung über Hetze im Netz bis hin zu rassistischen Gewalttaten“ (Bundeszentrale für politische Aufklärung, Themenseite Rassismus, 2020).
Rassistische Praxen können also „offensichtlich“ sein, z.B. indem Personen sich bewusst rassistisch äußern. Sie können aber auch verdeckt, indirekt oder subtil sein, indem z.B. Menschen eine bestimmte Herkunft zugeschrieben wird. Steigern lässt sich dies noch, wenn ihre vermeintliche Herkunft zusätzlich mit Kultur gleichgesetzt wird.
Die spezifische Weise, wie Frau Müller ihrer Schüler*innen anspricht, kann mit der Differenzlinie Kultur genauer analysiert werden. Mit der Ansprache „IHR habt doch bestimmt einige Gemeinsamkeiten“ adressiert sie Soraya im Kontext der Stunde als Person eines bestimmtes „Kulturkreises“ und schreibt sie einer bestimmten Gruppe zu, deren Mitglieder nach der Vermutung von Frau Müller eine Sprache teilen und somit, so klingt es implizit mit, auch weitere (kulturelle) Ähnlichkeiten aufweisen würden. Der skizzierte Vorgang wird als Subjektivierungsprozess beschrieben, in dem Individuen durch eine bestimmte Form angerufen werden und dadurch subjektiviert werden (Althusser, 1977/2010, S. 142). Soraya wird durch die Ansprache und den Rückbezug von Frau Müller in Bezug auf Sorayas Herkunft, Erstsprache und weiteren Kategorisierungen zu einer bestimmten Gruppe, die hier von Robyn, Arya und Muri repräsentiert wird, zur kulturell „Anderen“ gemacht. Durch diesen Subjektivierungsprozess wird Soraya einer bestimmten gesellschaftlichen Position zugewiesen (vgl. Butler, 2019, S. 7/8). Ob Soraya, Muhammad, Sascha und die anderen von ihr zugewiesenen Schüler*innen sich selbst dieser Gruppe zugehörig fühlen, sich überhaupt als eine Person dieser Sprachgruppe angesprochen fühlen, spielt dabei (erstmal) keine Rolle. Deswegen wird hier auch von Fremdzuschreibung gesprochen und nicht von Selbstbeschreibung. Es wäre möglich, dass Soraya, Muhammad oder Sascha eine ganz andere Wahrnehmung davon haben, zu welcher Gruppe Sie sich zugehörig fühlen. Ihre Perspektive wird jedoch nicht durch die Lehrerin erfragt. Hierin zeigt sich, dass unabhängig davon wie harmlos, nett und wohlmeinend Frau Müllers Hinweise auch gemeint waren, dieser Vorgang über die Differenzlinie Kultur eine abgrenzende und ausschließende Funktion ausübt.
Analysekategorie: Durch das Benennen von Kategorien kann gesellschaftliche Wirklichkeit auf Differenzen hin untersucht beziehungsweise analysiert werden. Als Kategorie werden im kritisch-erziehungswissenschaftlichen Kontext sozial konstruierte Kategorien verstanden, also Einteilungen, wie sie sprachlich und strukturell hergestellt werden und auf Abgrenzungen zum „Anderen“ hin basieren. Durch diese Einteilungen entstehen Kategorienpaare wie zum Beispiel: deutsch/nicht-deutsch; Schwarz/weiß; unsere Kultur/eure Kultur etc.
Die Kategorie Kultur wird hier als Analysekategorie genutzt, um genauer zu verstehen, was geschieht, wenn Frau Müller Soraya, Mehmet und andere zu einer Gruppe von Menschen zuordnet, die ihr vermeintlich ähnlich sind. Sie vermittelt damit gleichzeitig, dass sie sich von den anderen Mitschüler*innen unterscheiden würde. Diese Differenzierungen wie sie hier vorgenommen werden, gehen aus den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen hervor. Diese Verhältnisse zeigen sich auf eine ganz bestimmte Art und Weise in der beobachteten Unterrichtsstunde und basieren auf der Konstruktion von kulturellen Differenzen (vgl. Hall, 1989), also wie sich diese Konstruktion historisch entwickelt hat und nachvollziehen lässt.
Anhand des Fallbeispiels lässt sich der vermeintlich nett gemeinte Ratschlag von Frau Müller an die Konstruktion von kulturellen Differenzen anknüpfen. Die Ratschläge und Aussagen von Frau Müller können als subtile nicht-intentionale, also nicht beabsichtigte, „rassistische Praxis“ identifiziert werden. Frau Müller meint es vielmehr gut, da sie davon ausgeht, dass ein Arbeiten in sprachhomogenen Gruppen, die Schüler*innen positiv bei ihrer Arbeit unterstützen könnte. Das Problem entsteht im Prozess durch die von Frau Müller vorgenommenen Zuweisungen. „Du gehörst dahin, du dahin, du nirgendwohin.“ Diese Form von Rassismus, die sich nicht mehr ausschließlich am „biologischen“ und/oder am „Aussehen“, sondern an der vermeintlichen Sprache und Kultur von Menschen entlang orientiert, wurde von Etienne Balibar (1990a S. 28) als „Rassismus ohne Rassen“ und von Stuart Hall als „Kulturrassismus“ bezeichnet. Hall beobachtet diese Form von Rassismus, die sich in den 1950er Jahren mit den so genannten „Gastarbeitern“ aus der Karibik und dem indischen Subkontinent in England entwickelte und führt dazu aus:
„In der nachkolonialen Periode findet man den genetischen Rassismus nicht mehr so häufig, üblich ist jetzt der kulturelle Rassismus (…) Der Unterschied zwischen genetischem und kulturellem Rassismus ist folgender: Die Engländer behaupten nicht, dass wir kleinere Gehirne haben, aber sie glauben, dass unsere Fähigkeiten rational zu denken, nicht so entwickelt sind“ (Hall, 1989, S. 10/11).
Kulturrassismus funktioniert also dadurch, dass vermeintlich „Anderen“ zugeschrieben wird, eine „andere Kultur“, andere Fähigkeiten, eine andere Mentalität zu haben, die sich von den Eigenschaften des „Wir“ oder der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden würden. Dabei wird dieses „Anderssein“ nicht nur neutral beschrieben, sondern im Vergleich zur „eigenen“ (deutschen) Kultur abgewertet.
Frau Müllers Aussagen lassen sich vor diesem Hintergrund als bewusste oder unbewusste Reproduktionen von spezifischen gesellschaftlichen Ordnungen verstehen, die von Ungleichheitsverhältnissen durchzogen sind und rassistische Wirkungen hervorbringen. „Es entsteht etwas“, so Hall, „was ich als rassistisches Klassifikationssystem beschreiben möchte, ein Klassifikationssystem, das auf rassistischen Charakteristika beruht“ (Hall, 1989, S. 7). Dieses Klassifikationssystem ist insofern rassistisch als dass es bestimmten Gruppen konstruierte kulturelle Charakteristika zuschreibt. Ein solches Konstrukt ist z.B. die rassistische Behauptung: „Menschen aus muslimischen Ländern haben eine andere Kultur als Wir in Deutschland. Daher passen Sie nicht zu uns.“ Das Klassifikationssystem wird genutzt, um sich selbst von den „Anderen“ zu trennen und abzugrenzen.
Kultur als Klassifikationssystem versammelt so verschiedene Differenzmarker, um funktionstüchtig zu sein: Unterschiede werden durch Hautfarbe und Haarfarbe, Gewohnheiten, Religion, Familien, Verhaltensweisen und das Wertesystem konstruiert und diskursiv verfestigt. Dabei konstituieren die Kategorien Kultur und auch Geschlecht den sozialen Umgang miteinander, sodass ein bestimmter Teil der Bevölkerung auf einen gesellschaftlich untergeordneten Platz verwiesen wird (vgl. Hall, 1989, S. 914). Kulturelle und soziale Tatsachen werden als „natürliche“ Eigenschaften dargestellt (ebd., S. 7). Stuart Hall beschreibt diese Vorgänge, in denen bestimmten Gruppen, aufgrund bestimmter Merkmale, quasi „natürliche“ Andersheit zugeschrieben wird, als „Formen der Naturalisierung“. Beispiele für die Naturalisierung von Differenz, wie sie uns häufig begegnen sind klischeehafte Zuschreibungen wie: Südeuropäer*innen sind temperamentvoll, Nordeuropäer*innen sind kühl und distanziert, Frauen sind zu emotional für die Führungsebene.
Der Philosoph Etienne Balibar gilt neben Stuart Hall als grundlegende Referenz im Kontext des „Kulturrassismus“ und erläutert den Ersatz des Begriffs „Rasse“ mit dem Begriff Kultur:
Als prägnantes Beispiel dieser Diskursverschiebung von „Rasse“ zu Kultur nennt Höhne (2021) die Deklaration der UNESCO 1951 zum „Rassenproblem“:
„Mit der Abwertung des Rassebegriffs (für die Bestimmung physischer und anatomischer Merkmale kann er weitergehend benutzt werden) (geht) gleichzeitig eine ‚Aufwertung der Unterschiede zwischen den Kulturen einher“ (ebd. S. 200).
Die Funktion der Abgrenzung und Abwertung, die zuvor der „Rasse“-Begriff erfüllt hat, wird nun von dem Kultur-Begriff übernommen und ersetzt. Es lässt sich eine „enge semantisch-funktionale Verbindung von Rasse und Kultur“ (ebd. S. 201) beschreiben, die es ermöglicht, dass die Vorstellung von hierarchischen Unterschieden zwischen Menschen aufgrund von äußeren (physischen) Merkmalen erhalten bleibt. Balibar erkennt hier anstelle eines rassischen Determinismus[1] einen kulturellen Determinismus, der „nicht mehr die Überlegenheit bestimmter Gruppen oder Völker über Andere postuliert, sondern sich darauf beschränkt, die Schädlichkeit jeder Grenzverwischung und die Unvereinbarkeit der Lebensweisen und Traditionen zu behaupten“ (Balibar, 1990a, S. 28).
[1] Lehre, Auffassung von der kausalen (Vor)bestimmtheit allen Geschehens bzw. Handelns (vgl. https://www.duden.de/rechtschreibung/Determinismus)
Die Beschäftigung mit der Differenzlinie Kultur hat in den Erziehungswissenschaften mit der Entstehung und Entwicklung der Interkulturellen Pädagogik in den 1980er Jahren eine problematische und doppelseitige Funktion eingenommen. Die Sozial- und Erziehungswissenschaften haben durch die (Wieder-)aufnahme und Reartikulation eines stark vereinfachten, ethnologisch orientierten Kulturbegriffs den beschriebenen hierarchisierenden Kulturbegriff als Referenz genommen. Höhne (2021) sieht diesen unreflektierten Kulturbegriff als Ursache für die problematischen Entwicklungen in den Erziehungswissenschaften, insbesondere in der Interkulturellen Pädagogik in den 1980er Jahren, welche die sogenannte „Ausländerpädagogik“ der 1970er Jahre ablöste.
Der vereinfachte Kulturbegriff wurde in den Erziehungswissenschaften ab den 1960er Jahren unkritisch als Bezugsquelle und Erklärungsmuster für pädagogisches Handeln genutzt (Höhne, S. 2001, S. 201). Attribute wie „homogen“, „unveränderlich“, „eindeutig“ wurden unreflektiert vom „Rasse“-Diskurs auf den Kultur–Diskurs übertragen. In einer ersten Phase wurden dabei die Fremdzuschreibungen „Gastarbeiter“ zur Fremdzuschreibung „Ausländer“ und „Ausländer als Fremde“. Diese wurde anschließend in den 1990er Jahren durch die Fremdzuschreibung „kulturell Andere“ (Stichwort Multikulti-Gesellschaft) abgelöst. In der interkulturellen Pädagogik, die den „kulturell Anderen“ „anerkennend“ begegnen wollte, entwickelten sich Themen und Handlungsfelder wie „Anerkennung der Anderen“, „Verstehen“, „Toleranz“ und „Empathie“. Eingebettet wurden diese als „kulturelle Bereicherung“, wodurch die Differenzlinie Kultur in ihrer abgrenzenden Funktion weiter verstärkt wurde.
In einem pädagogischen Rahmen, der sich insbesondere mit dem Verhältnis zwischen Bildung und Migration beschäftigt, hat eine Anerkennung der „Anderen“ als „Migrationsandere“ rassialisierende Folgen. Diese zeigen sich beispielsweise, wenn im Rahmen von so genannten interkulturellen Veranstaltungen Schüler*innen dazu aufgefordert werden, Musik und Essen aus „ihren“ Heimatländern mitzubringen – auch dann, wenn sie schon in Deutschland geboren und aufgewachsen sind. Ihnen wird nicht nur die Option genommen, Deutschland als ihr Heimatland wahrzunehmen, es wird außerdem das Bild verfestigt, dass sie einer anderen Kultur zugehörig seien.
Kultur als Differenzlinie in dieser abgrenzenden Funktion artikuliert sich zum Beispiel darin, wenn Schüler*innen of Color[1] immer wieder aufgefordert werden, von ihren „Wurzeln“ zu berichten, so als sei es nicht möglich, dass ihre Wurzeln in Deutschland liegen, wenn sie nicht „Standard-Deutsch“ aussehen.
Ansätze, wie von Stuart Hall oder Etienne Balibar (die den Cultural Studies und der Postkolonialen Theoriebildung zugeordnet werden), haben in den Erziehungswissenschaften bis jetzt
„spärlich Einzug gehalten (…), was umso verwunderlicher ist, als einige thematische Schwerpunkte der postkolonialen Wissenschaftskritik Grundlagen und Aufgaben der Erziehungswissenschaften zutiefst berühren. Die Problematisierung von Identität, der Umgang mit vielfältigen sozial konstruierten Differenzen, die Repräsentation der Anderen und die Konstruktion von Normalität sind zentrale Fragestellungen, die eine erhebliche Bedeutung für die Entwicklung erziehungswissenschaftlicher Theoriebildung als auch für das pädagogische Handeln beinhalten“ (Torres Baquero 2012, S. 315).
Denken wir an das Fallbeispiel von Frau Müller zurück, so lässt sich vermuten, dass auch gegenwärtig ein vielfach vereinfachender, diffuser und ausgrenzender Kulturbegriff als Erklärungshorizont für pädagogisches Handeln fungiert und diskriminierendes pädagogisches Handeln der Lehrenden legitimiert (bewusst oder unbewusst). Vor dem Hintergrund der theoretischen Folie des „Kulturellen Rassismus“ lassen sich aus dem nett gemeinten Ratschlag von Frau Müller „sie können sich so sicher besser verständigen und gemeinsam aus Ihren Erfahrungen schöpfen“ Gegensätze wie „deutsch/nicht-deutsch“ oder „europäisch/nicht-europäisch“ herauskristallisieren und problematisieren.
[1] Schüler*innen of Color sind Schüler*innen, die nicht als weiß, Standard-Deutsch von der Mehrheitsgesellschaft wahrgenommen werden.
Analyse und Erarbeiten von alternativen Handlungsoptionen im Umgang mit Heterogenität
Lesen Sie sich das Fallbeispiel zu Beginn des Textes nochmals sorgfältig durch.
Welche Form der Gruppeneinteilung nutzt Frau Müller in der beschriebenen Situation und wie lässt sich diese vor dem Hintergrund des Wissens um „Kulturrassismus“ einordnen?
Begründen Sie Ihre Einschätzung bitte unter Bezugnahme auf die ausgeführten theoretischen Hintergründe.
Überlegen Sie sich, wie Sie selbst in der beschriebenen Szene gehandelt hätten und schreiben Sie alternative Handlungsoptionen auf. Versuchen Sie auch diese theoretisch zu untermauern.
3.1) Hören Sie sich den Podcast „Rassismus an Schulen“ mit Prof. Dr. Karim Fereidooni an. Bringen Sie anschließend die theoretischen Grundlagen aus diesem Modul mit dem Interview mit Fereidooni zusammen und schreiben Sie ein paar Zeilen dazu, welche neuen zusätzlichen Erkenntnisse Ihnen das Hören gebracht hat.
Oder:
3.2) Lesen Sie den Text von Alice Hasters (2019): Was weisse Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten. München: hanserblau. von S. 11-20, oder hören Sie das Audio auf Spotify: Teil 3 – Teil 8.Bringen Sie anschließend die theoretischen Grundlagen aus diesem Modul mit dem Text von Hasters zusammen und schreiben Sie ein paar Zeilen dazu, welche neuen zusätzlichen Erkenntnisse Ihnen das Lesen/Hören von Hasters gebracht hat.
- Althusser, Louis. (1977/2010). Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie. Hamburg: VSA.
- Balibar, Etienne (1990a): Gibt es einen Neo-Rassismus? In: Balibar, Etienne/Wallerstein, Immanuel [Hrsg.]: Rasse, Klasse,Nation. Ambivalente Identitäten. Argument Verlag: Berlin, S.23–38.
- Balibar, Etienne. (1990b). Die Nation-Form: Geschichte und Ideologie. In: Balibar, Etienne, Wallerstein, Immanuel. (Hg.). Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten. Berlin/Hamburg: Argument Verlag. S. 107- 131.
- Butler, Judith. (2019). Psyche der Macht: das Subjekt der Unterwerfung (Deutsche Erstausgabe, 10. Auflage ed.). Frankfurt am Main: Suhrkamp.
- Hall, Stuart. (1989). Rassismus als ideologischer Diskurs. Rassismus ohne ‚Rassen‘. In: Rätzhel, Nora. (Hg.). Theorien über Rassismus. Hamburg/Berlin: Argument Verlag. S. 7-16.
- Höhne, Thomas. (2001). Kultur als Differenzierungskategorie. In: Lutz, Helma, Wenning, Norbert. (Hg.). Unterschiedlich verschieden. Differenz in der Erziehungswissenschaft. Opladen: Leske und Budrich. S. 197-213.
- Lutz, Helma, Wenning, Norbert. (2001). Differenz über Differenz – Einführung über die Debatten. In: Wenning, Norbert, Lutz, Helma (Hg.). Unterschiedlich verschieden. Differenz in der Erziehungswissenschaft. Opladen: Leske und Budrich. S. 11-25.
- Torres Baquero, Patricia. (2012). Postkoloniale Pädagogik. Ansätze zu einer interdependenten Betrachtung von Differenz. In: Reuter, Julia., & Karentzos, Alexandra (Hg.). Schlüsselwerke der Postcolonial Studies. Wiesbaden: Springer. S. 315-326.
- Arndt, Susan & Ofuatey-Alazard, Nadja. (2015). Wie Rassismus aus Wörtern spricht: (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache: ein kritisches Nachschlagewerk (2. Auflage ed.). Münster: UNRAST Verlag.
- Hasters, Alice. (2012). Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen aber wissen sollten. Berlin: hanserblaue. (Auch auf Spotify abrufbar)
- Nguyen, Toan Quoc (2014). „Offensichtlich und zugedeckt“- Alltagsrassismus in Deutschland, Bundeszentrale für politische Aufklärung bpb online: https://www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/dossier-rechtsextremismus/194569/offensichtlich-und-zugedeckt-alltagsrassismus-in-deutschland/. [Letzter Zugriff 5.5.2023].
- Ogette, Tupoka (2020). exit RACISM: rassismuskritisch denken lernen. (9. Auflage ed.). Münster: Unrast Verlag. (Auch auf Spotify abrufbar!)
- Rommelspacher, Birgit. (2009) Was ist eigentlich Rassismus? In: Melter, Claus, Mecheril, Paul. (Hg.). Rassismuskritik Band 1: Rassismustheorie und -forschung. Schwalbach: Wochenschauverlag. S. 25-38.
- Racial Profiling, institutioneller Rassismus und Interventionsmöglichkeiten (https://www.bpb.de/gesellschaft/migration/kurzdossiers/308350/racial-profiling-institutioneller-rassismus-und-interventionsmoeglichkeiten). [Letzter Zugriff 07.04.2023].
- Sow, Noah (2008). Deutschland- Schwarz Weiß. München: Bertelsmann.
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