Modul 14 |
Neo-Linguizismus
Neo-Linguizismus
#Diskriminierung aufgrund von Dialekten/ Akzenten #Ausschlüsse und Benachteiligung bestimmter Schüler*innen #Linguizismus als Teil von Rassismus #Differenzlinie Sprache
Diese Lehreinheit stellt einen einführenden Text in die Thematik bereit. Vorangestellt ist ein Fallbeispiel aus einer KFZ Klasse einer berufsbildenden Schule aus dem Jahr 2020. Darin werden Lernmöglichkeiten entlang der Differenzlinie „Sprache“ eröffnet. Im weiteren Verlauf wird der theoretische Ansatz „Linguoszismus/Neolinguizismus“ vorgestellt. Der Ansatz kann helfen, einen pädagogischen Blick für Ausschlüsse und Diskriminierung, wie sie über die Wahrnehmung von Sprache und ihrer Normativität bzw. „Abweichungen“ (Devianzen) stattfinden, zu schärfen. Im Anschluss an den Text finden Sie die Aufgabenstellungen zu dieser Lehreinheit.
- Fallbeispiel
- Theorie
- Aufgabe & Reflexion
- Weitere Informationen
„Schön, das es dich gibt!“
Ein Herbsttag im Jahr 2020, Unterrichtsbeginn: 10:00, Unterrichtsdauer: 10:00 Uhr – 11:30 Uhr; Deutschunterricht. Thema ist: Fokus auf Kommasetzung und das Erkennen von Nebensatzstrukturen.
Herr Dinkelmeyer arbeitet mit Schüler*innen der o.g. Klasse an einem Textbeispiel, das er im Plenum mit einem Bild einführt und per Beamer zeigt.
Herr Dinkelmeyer sagt einleitend zu dem Foto: „Das Bild hat mich an euch erinnert.“ Zu sehen ist eine Wand im Außenbereich ohne Kontext mit einem Graffiti. Der Schriftzug lautet: „Schön, das es dich gibt!“ Die Schüler*innen reagieren positiv auf Herr Dinkelmeyers Input, sie lächeln und schauen aufmerksam nach vorne. Herr Dinkelmeyer fragt in die Klasse: „Was würdest du sagen, wenn das jemand für dich geschrieben hätte?“ und richtet die Frage dann direkt an einen Schüler in seiner Nähe. Der Schüler fragt zurück: „Männlich oder weiblich?“ Herr Dinkelmeyer antwortet: „Das ist egal. Würde es dich nicht auch freuen, wenn dein bester Freund es an die Wand geschrieben hätte?“ Er schaut sich fragend um: „Irgendetwas stimmt hier nicht, oder? Ich denke, wir haben hier allerdings ein anderes Problem. Ich zumindest würde mich nicht wirklich freuen. Egal, ob mein bester Freund oder meine Frau das so geschrieben hätten.“ Herr Dinkelmeyer schaut sich weiter fragend und auffordernd um, keine*r der Schüler*innen ergänzt seine Aussagen oder fragt nach. „Hmmm“, fährt er weiter fort „also, wenn ihr eine Liebesbotschaft platzieren wollt, schreibt es doch bitte richtig, ansonsten kommt es nicht richtig beim Empfänger an.“
Herr Dinkelmeyers Beispiel hat aus mehreren Gründen für die Lehreinheit in Bezug auf die Differenzlinie Sprache besondere Relevanz: Es zeigt auf, inwiefern mehrheitsgesellschaftliche Normvorstellungen von der „Richtigkeit“ der deutschen Sprache mit Abgrenzung und Abwertung verknüpft sind (1). Weiterhin ist an dem Beispiel exemplarischablesbar, wie eine Deutschlehrkraft mit dem Diktum der „Richtigkeit“ unhinterfragt (2) umgeht und darüber hinaus beide Aspekte an Schüler*innen weiter vermittelt (3).
Wir werden darlegen, wie diese drei Aspekte entlang der Differenzlinie „Sprache“ wirken und wie sie miteinander verwoben sind und einander unterstützen. Dazu analysieren wir die einzelnen Aspekte, wie sie sich aus dem Fallbeispiel ableiten lassen, mit dem theoretischen Ansatz des„Linguizismus“ und „Neo-Linguizismus“.
Die Lehrkraft handelt neo-linguizistisch und reproduziert auf diese Weise nicht nur Ungleichheiten, sondern verstärkt und verfestigt sie zudem. Zusätzlich kann sein Handeln zu einem „„ seiner Schüler*innen führen, die Deutsch als Fach- und Bildungssprache noch erlernen. Sie werden zukünftig – eventuell auch in privaten Zusammenhängen – schweigen aus Angst, es nicht „richtig“ zu sagen oder zu schreiben. „Schreibt eure Liebesbotschaft „richtig“, sonst kommt sie nicht an.“
Differenzlinie
Der Begriff der Differenzlinie ist in der kritischen Erziehungswissenschaft seit den späten 1980er Jahren geläufig, um soziale Ungleichheiten zu untersuchen. Hierfür werden Prozesse der (Wieder)Herstellung von Differenz analysiert und ihre Wirklogiken aufgedeckt.
Dabei sind ausgehend von der Differenzlinie „Klasse“ immer mehr Differenzkategorien identifiziert und benannt worden. Beispiel sind: Geschlecht, ethnische Herkunft, sexuelle Identität, Religion, Kultur, Sprache etc. Im Interesse der Untersuchungen von Differenzlinien steht nicht nur, wie diese entstehen, sondern auch, was sie in der sozialen Wirklichkeit bewirken und erzeugen. Differenzlinien müssen als das Ergebnis von sozialen Konstruktionen gesehen werden, die die gesellschaftliche Realität produzieren und durchziehen. Differenzlinien laufen nicht parallel oder nebeneinander, sondern durchkreuzen und überschneiden sich (vgl. Lutz et al. 2021).
Die entstehenden Aus- und Abgrenzungen von Personen, die andere Sprachen als das Normdeutsch sprechen und/oder einen Akzent haben, der von der erwarteten erstsprachlichen Norm abweicht, lässt sich über das oben beschriebene Fallbeispiel von Herrn Dinkelmeyer exemplifizieren:
Herr Dinkelmeyer intendiert den richtigen Gebrauch von Nebensatzstrukturen und Kommasetzung an Schüler*innen im Deutschunterricht an einer norddeutschen berufsbildenden Schule im Jahr 2020 zu vermitteln und greift dazu auf das Beispiel „Schön, das es dich gibt!“ zurück, um auf die Falschschreibung des ‚dass‘ hinzuweisen. Dagegen ist auf den ersten Blick nicht viel einzuwenden, wenn er das Beispiel nicht mit dem Begleitsatz „Ich zumindest würde mich nicht wirklich freuen“ gerahmt hätte. Was genau geschieht, wenn Herr Dinkelmeyer seine Abneigung gegenüber den Schüler*innen über den falsch geschriebenen Satz äußert, und zwar derart, dass er sich nicht darüber freuen würde und ihnen dadurch implizit nahelegt, sich auch nicht zu freuen („also, wenn ihr eine Liebesbotschaft platzieren wollt, schreibt es doch bitte richtig, ansonsten kommt es nicht richtig beim Empfänger an“)?
Herr Dinkelmeyer benutzt das Beispiel: „Schön, das es dich gibt!“, um Nebensatzstrukturen, die Normschreibung von das/dass und Kommasetzung zu thematisieren. Es lässt sich zudem vermuten, dass seine Intention freundlich gemeint war, wenn er äußert, dass er an die Klasse gedacht habe, als er den Satz ausgewählt hat. Nehmen wir eine machtkritische Perspektive auf die Situation ein, lassen sich einige problematische Aspekte erkennen.
Die Richtigkeit beziehungsweise korrekte Verwendung von Nebensatzstrukturen und Kommasetzung, wie sie sich anhand des Beispielsatzes „Schön, das es Dich gibt!“ erläutern und korrigieren lassen, ist naheliegenderweise Teil des Curriculums im Deutschunterricht. Allerdings lässt sich problematisieren, auf welche Art und Weise das Beispiel präsentiert und dann semantisch verknüpft wird. Herr Dinkelmeyer verweist auf die falsche und nicht korrekte Schreibweise und macht deutlich, dass aus seiner Sicht, die*der Empfänger*in dem eigentlich positiv gemeinten Graffiti-Schriftzug abgeneigt und ablehnend begegnen würde, da dieser nicht der Rechtschreibnorm entspricht. Diese Praxis der Abwertung über Sprache – in sprachlichen Situationen, in denen sie nicht der vorgegebenen Norm entspricht – wird in der machtkritisch positionierten Erziehungswissenschaft und DaZ-Forschung als „Neolinguizismus“ bezeichnet und lässt sich als Technik der Machtausübung identifizieren.
Um zu verstehen, was mit Neolinguizismus gemeint ist, ist es interessant, sich zunächst den Begriff des Linguizismus näher anzuschauen:
Linguizismus bezeichnet
„eine spezielle Form des Rassismus, die in Vorurteilen und Sanktionen gegenüber Menschen, die eine bestimmte Sprache bzw. eine Sprache in einer durch ihre Herkunft beeinflussten spezifischen Art und Weise verwenden, zum Ausdruck kommt“ (Dirim, 2010, S. 91)
Insofern dient Linguizismus der Sicherstellung und Herstellung von Hierarchien. Die dominante Gruppe grenzt sich durch die Abwertung einer bestimmten Sprachform/Sprachabwandlung oder einer Sprache gegenüber einer schwächer gestellten und minorisierten Gruppe ab. Dabei wird die Sprache der dominanten Gruppe zur Norm erhoben und Abweichungen (Devianzen) dieser als geringer klassifiziert und schließlich abgewertet und sogar verboten.
Das aufgezeigte Phänomen, das sich mit dem Konzept des (Neo)linguizismus beschreiben lässt, geht im angloamerikanischen Kontext auf die Machttechniken der Kolonialmächte zurück. In der deutschsprachigen wissenschaftlichen Literatur wurden Machttechniken des Nationalsozialismus ebenso mit dem Begriff des „Linguizismus“ beschrieben wie die Abwertung der französischen Sprache (bekannt unter dem Begriff der „Entwelschung“), die schließlich zum Verbot der französischen Sprache im Elsass führte (vgl. Dirim, 2010, S. 92). Die linguizistischen Methoden im Elsass zeigen zudem auf, inwiefern Sprache als konstitutives Merkmal zur Bildung einer einheitlichen Idee von Nationalstaat fungiert (vgl. in ebd., S. 93). Diese Formen der Abwertung und gewaltvollen Ausschließung und Ausgrenzung von Sprachen, die Menschen dieser (Sprach)gruppen abwertet und entwertet, kann als offener und simpler Linguizismus bezeichnet werden.
Die Technik, wie sie von Herrn Dinkelmeyer verwendet wird, ist dem sogenannten „Neolinguizismus“ zuzurechnen, da diese Technik verdeckt und weniger auffällig operiert. İnci Dirim beschreibt den Neolinguizismus als „ein Begleitphänomen der Entwicklung zu demokratischen Staaten, deren Selbstverständnis die Existenz des Rassismus und damit auch die des Linguzismus nicht zulässt“. Sprachen werden jetzt nicht mehr einfach „verboten“, vielmehr gilt das „Gebot“ Deutsch zu sprechen. Insofern werden subtilere Formen der Ausgrenzung bemüht, wie sie sich besonders im Zusammenhang mit der Differenzlinie „Kultur“, (die ähnlich operiert), erkennen lassen, wenn in den Diskursen dort Sprache und Kultur oft in eins gesetzt werden.
„Neolinguizismus ist subtil, er spielt Tatsachen vor, er agiert hinter dem Deckmantel harmlos klingender Bezeichnungen, er täuscht über Ausgrenzung und Unterdrückung hinweg und ist dadurch im Vergleich zu dem Linguizismus gewissermaßen „hinterhältig“ und schwerer aufzudecken“ (in ebd., S. 96)
Dirim vermutet zudem eine wirksam werdende Trias, die für die Wahrung des Nationalstaats relevant ist. Die imaginierte und ideologisch aufgeladene Einheit von: Nation, Staat und Sprache. Der zuvor angesprochene illegitime offene Rassismus in Verbindung mit Sprachen, ihr schlichtes Verbot, ist in demokratischen Staaten nicht (mehr) möglich, weshalb meist die hinterhältigere Form zum Tragen kommt und den Nationalstaat in eben dieser Form untermauert. Neolinguizistische Tendenzen sind zum Beispiel die Diskreditierung von Menschen, die Deutsch nicht als sogenannte „Native Speaker“ sprechen. Ihre Ethnolekte (wahrnehmbare Einflüsse anderer Sprachen auf die Zielsprache Deutsch) werden abgewertet und entwertet und häufig in medialen Darstellungen von Migrant*innen als Karikatur verwendet (vgl. in ebd., S. 101). Herausgestellt wird dabei überwiegend, wie rudimentär und fehlerhaft Deutsch gesprochen wird. Menschen, die den Ethnolekt nutzen, werden abgewertet und häufig auch verkindlicht. Das Nutzen von Ethnolekten kann im Rahmen von beispielsweise migrantischer Comedy teilweise auch als bewusste Widerstandspraxis genutzt werden. Außerhalb von “Comedy“ und Karikatur erfahren Ethnolekte hingegen keine Akzeptanz.
Denken wir an das Beispiel von Herrn Dinkelmeyer zurück, wird klar, dass sich hier einige Bezüge machen lassen (Siehe Aufgabe 1 im Anschluss an diesen Text).
Neolinguizismus erscheint als Machtinstrument, um diejenigen, die als die sprachlich „Anderen“ (vgl. Mecheril, 2004) markiert wurden, der Nationalsprache des jeweiligen Staates zu unterwerfen und sie durch verpflichtenden Spracherwerb bestmöglich anzupassen. Das Sprechen der Nationalsprache Deutsch in seiner korrekten, “reinen“ und nicht abweichenden Form ist bis heute weitestgehend unhinterfragt und Vorschläge, wie zum Beispiel Herkunftssprachen in der Schule zu unterrichten, werden maximal als Instrument akzeptiert, um die Zielsprache Deutsch besser und effizienter zu erlernen (vgl. Dirim, 2010, S. 106). Darüber hinaus lässt sich mit Blick auf den Kontext des lebenslangen Lernens nicht erkennen, dass Deutschland sich bemühen würde, die sprachlichen Bedingungen von Weiterbildung für Erwachsene kritisch zu überprüfen oder aber gar Weiterbildungsmaßnahmen in weiteren Sprachen anzubieten (vgl. Heinemann, 2014).
Die Selbstverständlichkeit, mit der Herr Dinkelmeyer sein Beispiel im Unterricht einbringt, hängt mit dem Selbstverständnis zusammen, was im Rahmen des Nationalstaats Deutschland als richtig und „normal“ angesehen wird. Der Verweis auf die semantische diskursive Einheit Staat, Nation und Sprache (siehe oben) erklärt, inwiefern das richtige Sprechen der Nationalsprache nicht nur erwünscht wird, sondern unhinterfragt in seiner“Homogenität‘“eingefordert wird. Es wird das als akzeptabel und normal wahrgenommen, was als homogen empfunden wird und nicht von dem Erwarteten abweicht. Herr Dinkelmeyer als Teilelement des Nationalstaats Deutschlands intendiert und – vermutlich wurde dies in seiner Ausbildung auf eine bestimmte Art und Weise unhinterfragt bestätigt und bestärkt–, dass das richtige (reine) und korrekte Sprechen und Schreiben der deutschen Sprache die einzige Möglichkeit sei, vollumfänglich als deutsche*r Staatsbürger*in zu gelten und/oder ökonomisch gesehen erfolgreich zu sein. Doch wir wissen auch, dass ein britischer oder französischer Akzent nicht negativ abweichend wahrgenommen wird und darüber hinaus sogar als positiv gewertet wird, da sich mit einem der beiden Akzente die Annahme verbindet, dass bilinguale Kompetenzen zum ökonomischen Erfolg beitragen können. Es scheint demnach unterschiedliche Facetten der Abweichung des richtigen und “reinen“ Deutsch zu geben, die unterschiedlich positiv oder negativ eingeschätzt werden. Um zu verstehen, aus welchem Selbstverständnis heraus Herr Dinkelmeyer handelt, schauen wir uns einen kleinen Exkurs zur Funktionsweise und zum Mechanismus der Herstellung von „Normalität“ an.
Normalität
Als „normal“ oder „der Normalität“ entsprechend wird umgangssprachlich dasjenige bezeichnet, was „mit gewohnheitsmäßigen Handlungen […], mit den Routinen und Regelmäßigkeiten einer fraglos geltenden Welt, kurz mit dem Alltag“ (Bröckling et al. 2006, S. 190) verbunden wird. „Normal“ ist das, was als durchschnittlich oder nicht weiter auffällig empfunden und der „Norm“ oder der alltagsweltlichen Vorstellung von Durchschnitt assoziiert wird. „Normal ist das, was die Mehrheit sagt, denkt und tut“ (in ebd., S. 190). Normalität ist damit veränderbar und stets im Fluss
Sie vertraue auf die Masse, den Vergleich mit den Bezugsgruppen sowie die quantitative Ermittlung des Mittelmaßes. Strategisch genutzt werden diese Verfahren, um erstens Menschen zu kategorisieren und dann in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Handlungsfeldern bezogen auf die geformten Gruppen (Bildungs)programme, Maßnahmen, Therapien, etc. u. a. zu entwickeln, legitimieren und durchzuführen.
Dabei wirken Normalitätsfolien suggestiv und subtil und rechnen damit, dass Menschen die „richtige“ Position auf der Normalverteilungskurve ansteuern. Normierend heißt dann: „Wer“ oder „wie ist“ beziehungsweise „wie handelt“ das Individuum im Vergleich zu „Anderen“?
In gegenwärtigen Verhältnissen wirken dabei zwei „normalistische Strategien“ im Anschluss an Jürgen Link (1998) zusammen: Die ältere Strategie, der „Prototypnormalismus“ geht von eindeutigen Diskontinuitäten zwischen dem Normalen und der Abweichung aus und tendiert zur Bildung von stabilen Gleichgewichten und intendiert das Spektrum der Normalität (wieder) auf Punktnormen zurückzuführen oder zumindest die Toleranzbereiche zu verringern. Dazu werden vermeintlich natürliche Merkmale (Körper, Herkunft, Abstammung, etc.u. a.) hergestellt und mittels Stigma-Grenzen eindeutige Pole hergestellt. Grenzüberschreitungen werden verhindert und binäre Pole wiederholend, verfestigt und verstetigt.
Bei der zweiten Strategie, dem “flexiblen Normalismus“ werden die Normalitätszonen erweitert und sogenannte Fließgleichgewichte zwischen Normalität und Abweichung hergestellt. Es gibt keine qualitative Grenze zwischen dem Normalen und dem Anormalen, sondern ein Kontinuum, auf dem sich grundsätzlich verschiebbare Punkte befinden. Die Trennung zwischen dem, was als normal und anormal wahrgenommen wird, ist nicht nur durchlässig, sondern auch unscharf und gilt nur für bestimmte Lebensbereiche und Zeiträume. Sie wird ständig neu ausgehandelt und ist zudem mit Strategien der „dynamischen Leistungssteigerung“ verbunden (vgl. in Bröckling et al. 2004, S. 193). Mit Blick auf die Normalverteilungskurve vergleichen sich Individuen sozusagen freiwillig mit Anderen und die Anpassung an das Erwünschte stelle sich ganz von allein ein: „Flexible Normalität wirkt nicht nur reflexiv, als Form der Selbstvergewisserung, sondern auch stimulierend, als Anreiz zur Selbstoptimierung“ (in ebd., S. 193). Normalität ist nach Bröckling et al. nicht nur Verheißung, sondern erzeugt auch „Normalisierungsdruck“. Diskursiv wird eine mit Sicherheit verbundene Normalitätsvorstellung hergestellt, die dazu führt, dass Angst davor entsteht, aus dem Raster der akzeptierten Normalitätszone herauszufallen und als zu abweichend wahrgenommen zu werden. Aus der Befürchtung heraus eine Randposition zugewiesen zu bekommen, aus der ein Entkommen nicht mehr möglich wäre, seien die Subjekte einer „De-Normalisierungsangst“ ausgesetzt (vgl. in ebds., S. 193). Aus diesem Grund positionieren sich Individuen immer wieder neu in den einzelnen Normalitätsfeldern und glauben dies komplett selbst bestimmt zu tun, insofern keine beziehungsweise eine wenig komplexe Reflexion über bestehende Diskurse und Machtverhältnisse stattfindet.
Bezogen auf Herrn Dinkelmeyer lässt sich hieran anschließen, dass er in der sprachlichen Normalitätsmatrix keine Ausnahme darstellt und bereits lange vor der eigentlichen Situation im Klassenraum die Richtlinien und Normen in Bezug auf das “richtige“ Sprechen der deutschen Sprache bereits verinnerlicht hat. Dies nicht zuletzt durch seine Ausbildung zum Deutschlehrer, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur selten sprachideologische Kritik mit im Curriculum berücksichtigt. Im Moment des Unterrichtens (re)aktualisiert sich diese Verinnerlichung, da er diesbezüglich noch keine pädagogisch professionelle und reflexive Haltung entwickelt hat. Aus genau diesem Selbstverständnis heraus deklariert er, dass die Abweichung, also das fehlende zweite „s“ (Schön, das(s) es dich gibt) bei de*r Empfänger*in der Nachricht schlecht ankomme und rät seinen Schüler*innen dazu, dieser Abneigung zu folgen.
Im Gegensatz dazu kann ein reflektierteres Selbstverständnis und eine machtkritische Haltung einer professionellen Lehrkraft dazu beitragen, Schüler*innen anstatt ausgrenzend und abwertend gegenüberzutreten, mit dem gleichen Beispiel gänzlich anders umgehen und die Schüler*innen empowernd zu unterstützen und ein selbstbewusstes Aneignen der Zielsprache zu ermöglichen. Das Beispiel würde dann nicht mehr zur Erörterung von Nebensatzstrukturen und Kommataregeln herangezogen werden, sondern als Beispiel der Selbstartikulation von Jugendlichen und jungen Erwachsenen kontextualisiert werden können. Im Anschluss an zahlreiche Stimmen von (Sprach)künstler*innen und Musiker*innen, wie sie in den letzten Jahren zunehmend sicht- und hörbar werden (beispielhaft werden hier genannt: der in Bern lebende und aus Kamerun stammende Logstik-Lehrling und „Facebook-Held“ Rash Sakem Junior Zamorano (vgl. Jones, 2015) und die Münchener Spoken-Word-Künstlerin, Moderatorin, Journalistin und Autorin Fatima Moumouni) ist zu beobachten, dass Künstler*innen „of colour“ selbstbewusst in ihren Kulturerzeugnissen mit attribuiertem und vorhandenem „Migrationshintergrund“ spielen (vgl. Preite, 2016, S. 376). In und durch diese „kulturellen Verarbeitungen der sozialen Lage“ (vgl. Lindner 1981, Seite 187) eröffnet sich ein gesellschaftlich relevanter Verhandlungsraum. Kothoff et al. beschreiben diesen als einen mehrschichtigen, offenen „Raum der Reflexion und Verhandlung von Differenzerfahrung zwischen und unter (…) MigrantInnen und Menschen ohne Migrationshintergrund“ (Kotthoff et al. 2013, 10). Der Bildungssoziologe Luca Preite geht diesen „kulturellen“ Produktionen Jugendlicher und junger Erwachsener „of colour“ vertiefter nach und arbeitet u. a. die Möglichkeiten der Selbstartikulation durch die selbstbewusste Aneignung der Zielsprache im Kontext von Berufsausbildungen heraus (vgl. Preite, im Erscheinen).
Die abwertenden Aussagen der Lehrkraft über der Sprachartikulation eines Jugendlichen sind insofern auf unterschiedlichen Ebenen wie dargelegt zu problematisieren und einer sprachideologischen Kritik zu unterziehen. Auf aktuelle didaktisch-methodische Ansätze, wie sie das Lernen einer Zweit- oder Drittsprache empowernd, machkritisch und lernfördernder aufgreifen, kann an dieser Stelle leider nicht eingegangen werden. (Weiterführende Literatur dazu finden Sie im Anhang.)
Es ist festzuhalten, dass die abwertenden Aussagen von Herrn Dinkelmeyer insbesondere ins Gewicht fallen, da er in seiner Funktion als Lehrkraft handelt. Im Anschluss an Louis Althusser lässt sich Berufsschule als von Macht durchzogener Ort beschreiben, der gesellschaftliche Verhältnisse vielfältig (re)produziert:
„Was aber lernt man in der Schule? Man gelangt mehr oder weniger weit in der Ausbildung, aber man lernt auf jeden Fall lesen, schreiben, rechnen – also einige Techniken sowie noch einige andere Dinge, u. a. Elemente (die rudimentär oder im Gegenteil grundlegend sein können) einer ,wissenschaftlichen‘ oder »,literarischen Kultur‘, die direkt verwendbar sind an den verschiedenen Stellen der Produktion (eine Ausbildung für die Arbeiter, eine andere für die Techniker, eine dritte für die Ingenieure und eine weitere für die Manager usw. ). Man lernt also gewisse ,Fähigkeiten‘. Daneben und auch gleichzeitig mit diesen Techniken und Kenntnissen lernt man auf der Schule die »Regeln« des guten Anstands, d. h. des Verhaltens, das jeder Träger der Arbeitsteilung einhalten muß, je nach dem Posten, den er einzunehmen ,bestimmt‘ ist: Regeln der Moral, des staatsbürgerlichen und beruflichen Bewußtseins, was klarer ausgedrückt heißt: Regeln der Einhaltung der gesellschaftlich-technischen Arbeitsteilung und letztlich Regeln der durch die Klassenherrschaft etablierten Ordnung. Man lernt dort auch ,gut französisch sprechen‘, gut ,zu redigieren‘ d. h. faktisch (für die zukünftigen Kapitalisten und ihre Knechte) ,gut zu kommandieren‘, d. h. (als Ideallösung) gut zu den Arbeitern ,zu sprechen‘ usw“ (Althusser, 1977, S. 112)
In der (Berufs)schule lernen wir also bestimmte Techniken, wie sie in gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen zum jeweiligen Zeitpunkt zur (Re)produktion dieser beitragen. Berufsschule wird somit zum Ort, an dem gesellschaftliche Verhältnisse nicht nur reproduziert, sondern vor allem auch hergestellt werden. Das Beispiel von Herrn Dinkelmeyer „Schön, das es dich gibt!“ lässt sich demnach auf mehrfache Weise als besonders problematisch einstufen. Er reproduziert und bestätigt nicht nur dominante Diskurse und Abgrenzungsmechanismen, sondern degradiert und entwertet die Möglichkeiten der Ausdrucksweise von Jugendlichen, indem er meint, bei einem Straßengraffiti eine Rechtschreibkorrektur vornehmen zu müssen. Herr Dinkelmeyers Sicht nutzt die Normabweichung im Graffiti, um auf bestimmte hegemoniale Formen aufmerksam zu machen und diese als Richtschnur nahezulegen. Er vermittelt an seine Schüler*innen diese doch besser anzunehmen und zu „erlernen“. Er fordert seine Schüler*innen nach Althusser somit dazu auf „sich den herrschenden Machtverhältnissen zu unterwerfen und sich auf den Normalitätsfeldern eine angemessene Position zu suchen“.
Der Umgang mit der Differenzlinie „Sprache“ erfordert von der Lehrkraft insofern neben entsprechenden didaktischen Kenntnissen und Fähigkeiten, die auf die Diversität von Schüler*innen fördernd eingehen, eine machtkritische Haltung, um bestehende Aus- und Abgrenzungen in der Schule nicht weiter zu verfestigen, sondern im besten Fall alternative Sicht- und Handlungsweisen aufzuzeigen beziehungsweise anzuregen. Ziel sollte es insofern sein, Normalitätsannahmen der Mehrheitsgesellschaft infrage zu stellen und Schüler*innen dazu anzuregen, diese kritisch zu reflektieren und als Lehrkraft Diskriminierung in jedem Fall nicht zu wiederholen, sondern einen diskriminierungssensibleren und wenn möglich lebendig machtkritischen Raum herzustellen.
Vor dem Hintergrund der theoretischen Folie des „Linguizismus“ und des „Neolinguizismus“ lassen sich aus dem Beispiel von Herrn Dinkelmeyer „Schön, das es dich gibt“ diskriminierende Sicht- und Handlungsweisen herausarbeiten, wie sie mit dem Konzept des „flexiblen Normalismus“ und dem Wissen um die reproduzierende Macht der Institution Schule geschärft werden konnten.
Analyse und Erarbeiten von alternativen Handlungsoptionen im Umgang mit Heterogenität und Differenz
Lesen Sie sich das Fallbeispiel zu Beginn des Textes zunächst nochmals sorgfältig durch.
Inwiefern lässt sich Herr Dinkelmeyer in der oben beschriebenen Situation als diskriminierend beschreiben und als neolinguizistisch einordnen? Bitte erläutern Sie Ihre Antwort in Bezug auf diesen Text mit circa 500 Wörtern.
Finden Sie in dem Fallbeispiel noch mindestens eine weitere Differenzlinie (z. B. race, class, gender, sexual identity, religion), mit der Herrn Dinkelmeyer einen pädagogisch anderen Umgang hätte wählen sollen. Nennen Sie die Differenzkategorie, begründen Sie, was an Herrn Dinkelmeyers Handeln problematisch ist und beschreiben Sie alternative Handlungsoptionen (circa 350 Wörter).
Begründen Sie Ihre Einschätzungen bitte unter Bezugnahme auf theoretische Hintergründe im Fließtext.
Überlegen Sie sich, wie Sie selbst in der beschriebenen Szene gehandelt hätten und schreiben Sie alternative Handlungsoptionen in Bezug auf den Umgang mit der sprachlichen Normabweichung auf. Versuchen Sie theoretische Aspekte, wie Sie sie in dieser Lehreinheit und im Seminar kennengelernt haben, einzubeziehen. (circa 350 Wörter).
Denken Sie an Ihre Erfahrungen in der beruflichen Praxis aus Ihrer eigenen Schulzeit oder Ihrem Alltag in der Vergangenheit oder Gegenwart. Schreiben Sie ein Fallbeispiel aus Ihrer Erinnerung auf, welches das Thema „Linguizismus“ bzw. „Neolinguizismus“ aufgreift und erläutern Sie dieses bitte.
- Althusser, Louis. (1977/2010). Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie. Hamburg: VSA.
- Bröckling, Ulrich, Bröckling, Krasman, Susanne, Lemcke, Thomas. (2006). Glossar der Gegenwart (Orig.- Ausg., 1. Aufl., 3. Dr ed.). Frankfurt am Main: Suhrkamp.
- Dirim, İnci. (2010). „Wenn man mit Akzent spricht, denken die Leute, dass man auch mit Akzent denkt oder so.“ Zur Frage des (Neo-)Linguizismus in den Diskursen über die Sprache(n) der Migrationsgesellschaft. In Mecheril, Paul; Dirim, İnci; Gomolla, Mechtild; Hornberg, Sabine; Stojanov Krassimir (Hg.). Spannungsverhältnisse. Assimilationsdiskurse und interkulturell-pädagogische Forschung, Münster: Waxmann, S. 91-114.
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- Ives, Peter. (2004). Language and hegemony in Gramsci. Reading Gramsci. London, Ann Arbor, MI: Pluto Press.
- Link, Jürgen. (1998). Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird.. Opladen (2. akt. und erw. Auflage): Budrich.
- maiz (2014). Deutsch als Zweitsprache – Ergebnisse und Perspektiven eines partizipativen Forschungsprozesses / Reflexive und gesellschaftskritische Zugänge / daz_Curriculum für die Erwachsenenbildung: Deutsch als Zweitsprache im Dissens.
- Mecheril, Paul, Quehl, Thomas. (2006). Sprache und Macht. Theoretische Facetten eines (migrations-)pädagogischen Zusammenhangs. In: Mecheril, Paul, Quehl, Thomas (Hg.) Die Macht der Sprachen. Englische Perspektiven auf die mehrsprachige Schule. Münster: Waxmann, S. 355-382.
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