Modul 2 |
Sprache und Macht
Sprache und Macht
#Zusammenhang Sprache #Macht und Wirklichkeit #Sprechhandeln #performativer Sprechakt
In dieser Lerneinheit wird in die Thematiken „Sprache und Macht“ eingeführt. Hierfür werden in einem ersten Schritt Einblicke in die Sprachtheorie und die postkoloniale Theorie gegeben und die Begriffe Sprache und Macht vorgestellt.
Es folgt daran anschließend ein Nachdenken über Subjektivierungstheorie und den Zusammenhang mit Sprache.
In allen Teilen des Textes wird ein Bezug zum Berufsschulalltag hergestellt und der Frage nachgegangen, was die Thematiken des Textes mit der beruflichen Praxis zu tun haben. Am Ende der Lerneinheit steht eine Aufgabe bereit und weiterführende Literatur lädt zur vertieften Weiterarbeit ein.
- Theorie
- Aufgabe & Reflexion
- Literatur
- Weiterführende Literatur
Das Herstellen von Zusammenhängen zwischen Sprache und Wirklichkeit geschieht zumeist nahezu intuitiv und selbstverständlich. Die Lerneinheit wird an diesen eher intuitiven Wahrnehmungen anknüpfen und einführende Beispiele verschiedener Sprachhandlungen aufzeigen, um einen differenzierteren Blick auf die verschiedenen Formen und Funktionen von Sprach(handeln) zu schärfen. Von dort ausgehend werden zentrale theoretische Begriffe eingebracht, um ein vertieftes Verständnis von Sprachhandeln und dem Zusammenhang zwischen Sprache, Wirklichkeit und Macht zu vermitteln. Der Wirkmächtigkeit von Sprache wird dann abschließend im Hinblick auf den Berufsschulalltag nachgegangen: Dazu gibt es Fragestellungen an uns, die uns auffordern werden, die Wirkmächtigkeit von Sprach(handeln) im Schulalltag zu analysieren und diese mit der gesamtgesellschaftlichen Ebene zu verknüpfen.
Sprache ist überall: Hatespeech, Cybermobbing, sprachliche Propaganda in politischen Kämpfen, Sprechen und Sprachen in der Schule, in der Öffentlichkeit und im Privaten und in den Zwischenbereichen. Gesprochene Sprache zeigt sich in sehr unterschiedlichen Formen und es gibt unzählige Perspektiven auf Sprache und ihre verschiedenen Ebenen. In dieser Lerneinheit geht es um jene Formen des Sprachhandelns, die im Rahmen unserer pädagogischen Arbeit als Berufsschullehrkraft relevant werden. Dabei bezieht sich diese Lehreinheit auf Textbeiträge aus der Ungleichheitsforschung und der differenztheoretischen Forschung. Insbesondere werden hier Ansätze aus der Sprachphilosophie von u. a. John L. Austin und Judith Butler aufgegriffen und für pädagogische Fragestellungen aufbereitet.
Wenn der Zusammenhang von Sprache und Wirklichkeit mit Blick auf den Schulalltag in den Fokus rückt, dann liegt die Frage nahe, welche Formen beziehungsweise Arten und Weisen von Sprache verschiedene Effekte und Wirkungen produzieren, wie sie für die*den einzelnen Schüler*in als Bildungsprozesse und darüber hinaus im weiteren Verlauf seiner*ihrer (Bildungs)Biographie relevant werden. Im Zusammenhang mit machtkritischen und differenzsensiblen Umgang mit verschiedenen Differenzkategorien wie etwa Geschlecht, Kultur, Sprache, Klasse, Dis/ability im Berufsschulalltag wird in dieser Einheit demnach der Fokus auf verletzendes, diskriminierendes, markierendes, kategorisierendes, festschreibendes und ausschließendes Sprechen gelegt.
Die Sprache des Schulalltags ist eine andere als jene, welche beispielsweise im Bundestag verwendet wird oder jene, die am Kiosk gesprochen wird. Diese verschiedenen Formen des Sprechens können als verschiedene Sprachregister (Alltagssprache, Bildungssprache, Unterrichtssprache, Geheimsprache, Amtssprache, Umgangssprache, Wissenschaftssprache, Jugendsprache, usw.) bezeichnet und unterteilt werden. Ein weiterer Aspekt, der relevant werden kann, ist die Art und Weise des Sprechens. Also wie laut und leise, sachlich, ironisch, autoritär, kollegial usw. gesprochen wird und wie dieses Sprechen mit entsprechender Mimik und Gestik begleitet wird. Diese angesprochenen Ebenen vollziehen sich während des Sprechens oder genauer im Akt- und Handlungscharakter der Sprache bzw. des Sprechakts (vgl. Austin, 1972).
Kurze Sätze, beiläufige Bemerkungen, vermeintlich selbstverständliche Ansprachen, Fragen, Annahmen und Schlussfolgerungen können Schüler*innen als „Andere“ herstellen (vgl. Rose, 2010). Wenn davon gesprochen wird, dass jemand als „anders hergestellt wird“, ist damit gemeint, dass diese Person als jemand adressiert wird, der*die von der herrschenden „Norm“ abweicht. Diese Normen wiederum werden durch die jeweils geltenden hegemonialen Diskurse hergestellt, über die in der 1. Lerneinheit „Pädagogische Professionalisierung in Differenzverhältnissen“ schon kurz gesprochen wurde. Durch Ansprachen wie: „Geh doch lieber auf die Realschule, deine Eltern können dir auf dem Gymnasium ja gar nicht helfen.“, oder in abwertender Form „Du willst Ärztin werden? Dann nimm erstmal das Kopftuch ab.“ (re)produzieren Lehrkräfte entlang von Differenzlinien, hier: „race“, „Kultur“, „sozioökonomische Herkunft“ wirkmächtig operierende Macht- und Ungleichheitsverhältnisse. Anstatt diese in der Schule weiter aufzulösen, werden sie durch diese Form des Sprechens weiter stabilisiert und reproduziert.
Die Ansprache der Lehrkraft und die damit verbundene „Platzzuweisung“, wie sie in dieser pädagogischen Alltagssituation auftaucht, ist eng verknüpft mit gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen. So weist diese Form des Sprechens stets auch auf (Vor-)Annahmen der Lehrkraft hin, wie sie vor dem Hintergrund von Normen und Normalitätsvorstellungen hergestellt werden und durch den Sprechakt der Lehrkraft bestätigt und reproduziert werden. Sprachliche Äußerungen beschreiben nicht nur die Welt oder behaupten etwas, sondern vollziehen (Sprach)handlungen. Durch ihre Aus- und Aufführung, ihren Vollzug wird Wirklichkeit erzeugt (vgl. Austin, 1972). Jeder Sprechakt kann – wie jede andere Handlung auch – gewaltsam und verletzend sein (vgl. Posselt, 2019, S. 17).
Um von hier aus den Zusammenhang zwischen dem einzelnen Sprechakt im Klassenraum und der gesellschaftlichen Makroebene vertiefter zu verstehen, wenden wir uns im Folgenden der Subjektivierungstheorie näher zu. Ganz grundlegend lässt sich Subjektivierung als jener Vorgang beschreiben, durch den Individuen zu Subjekten „werden“ und „gemacht werden“. Im Anschluss an Louis Althusser wird hier das Konzept der „Anrufung“ (oder auch Interpellation) relevant, welches Menschen als bestimmte Menschen (vgl. auch das Gender-Modul zum Zusammenhang zwischen Anrufung und Geschlecht) „anruft“. Die viel zitierte Figur der „Anrufung“ (Interpellation) von Louis Althusser bezieht sich auf die von ihm beschriebene Szene, in der ein Polizist einem Menschen auf der Straße zuruft: „He, Sie da!“ (Althusser, 1977/2010, S. 142) und dieser sich prompt umdreht. Durch die Wendung um 180 Grad vollziehe sich die Unterwerfung des Menschen angesichts der machtvollen Anrufung, die vom Polizisten als Stellvertreter des ideologischen Staatsapparats ausgeht (vgl. in ebd., S. 143). Das angerufene Individuum „anerkennt, dass der Anruf ‚genau‘ ihm galt und dass es gerade er war, das angerufen wurde (und niemand anderes)“ (in ebd., S. 143).
Durch die Anrufung wird das Individuum also zugleich unterworfen und formt sich zum Subjekt oder mit Althusser gesprochen: Die Szene beschreibt einen „Vorgang, (…) [in dem] Individuen zu Subjekten ‚transformiert‘ [werden]“ (in ebd., S. 142).
Im Anschluss und als Weiterentwicklung an Althusser beschreiben die poststrukturalistischen Theoretiker*innen Judith Butler und Michel Foucault Subjektivierung dann als den Vorgang, durch den Individuen in die herrschenden (diskursiven) Ordnungsverhältnisse eingepasst werden und auf einen bestimmten Platz verwiesen werden.
Foucault und Butler entwickeln in der Auseinandersetzung mit den herrschenden (diskursiven) Ordnungsverhältnissen ein erweitertes Macht- und Subjektverständnis:
Im Anschluss an Foucault (und Butler) unterwirft sich das Subjekt einerseits gesellschaftlichen Normen, formt diese aber zugleich auch mit. Subjektivierung ist demnach „eine Art von Macht, die nicht nur einseitig beherrschend auf ein gegebenes Individuum einwirkt, sondern das Subjekt auch aktiviert und formt“ (Butler, 2019, S. 82). Subjektivierungsprozesse regulieren insofern das Individuum und erzeugen es zugleich.
Wenn Individuen durch die Anrufung in herrschende gesellschaftliche Ordnungen unterworfen werden und dadurch bestimmte Positionen als Subjekte erhalten und einnehmen, von denen aus sie sprechen und handeln, dann lässt sich die beschriebene pädagogische Situation nochmals vertiefter verstehen. Die Platzzuweisung, die durch die freundlich und gut gemeinte pädagogische Ansprache der Lehrkraft vollzogen wird, ist eingewoben in machtvolle Ordnungsverhältnisse, in denen Normen und Normalitätsvorstellungen zu sozial marginalisierten Jugendlichen das pädagogische Denken und Handeln der Lehrkraft beeinflussen.
Zusammenfassend lässt sich zu dem Verhältnis zwischen Sprache – Macht – Wirklichkeit sagen, dass Sprache nicht nur wirklichkeitsbeschreibend, sondern wirklichkeitserzeugend ist. Die machtvollen diskursiven Ordnungsverhältnisse, aus denen Individuen als Subjekte hervorgehen, werden im (pädagogischen) Sprechhandeln wiederholt, bestätigt und verfestigt und entfalten eben in ihrer Wiederholung ihre Wirkmächtigkeit.
Jegliches Sprechen als Subjekt setzt nach Foucault voraus, dass wir eine bestimmte Sprecher*innenposition in den (diskursiven) Ordnungsverhältnissen eingenommen haben, von der aus wir sprechen und handeln (vgl. Foucault 1977, 78). Die Lehrkraft spricht also von einer von ihr selbst eingenommenen Sprecher*innenposition, sie hat bestimmte Dinge gelernt und verinnerlicht, wie sie aus den Machtbeziehungen, mit denen sie als Mensch, Bürger*in und als Lehrkraft verwoben ist, hervorgehen.
In der Anrufung als jemand, gibt es jedoch auch immer die Möglichkeit, die reservierte Sprecher*innenposition nicht einzunehmen, sich dagegen zu entscheiden und sich nicht um 180 Grad in der Anrufung umzuwenden und die Anrufung vollkommen anzuerkennen. Die Lehrkraft kann sich gegen die diskursiven Ordnungsverhältnisse stellen und alternative Sprechhandlungen vollziehen. Diese wiederum wirken auf die diskursive Wirklichkeit ein, verändern diese potenziell, sind aber ebenso auf Wiederholung angewiesen. Denn erst in der Wiederholung entstehen wirklichkeitskonstituierende Strukturen, aus denen dann wiederum neue Sprecher*innenpositionen verhandelt werden können.
Vor dem Hintergrund der theoretischen Ausführungen zum Zusammenhang zwischen Subjekt, Macht und Wirklichkeit, lassen sich Situationen der sprachlichen Interaktion aus dem pädagogischen Alltag nun genauer verstehen.
Wie kann ich als Lehrer*in mit diesem Wissen im Klassenraum sprechhandeln?
Beschreiben Sie in eigenen Worten, gerne an einem konkreten Beispiel aus der Schule – den Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Diskursen – Normen – pädagogischem Sprechhandeln und Subjektivierungsprozessen von Schüler*innen. Beziehen Sie bitte den gelesenen Text in Ihre Antwort ein.
Leiten Sie aus ihrem Beispiel mindestens eine begründete Folgerung für die Vorbereitung des eigenen Unterrichts, den Umgang mit den Schüler*innen und Ihrer eigenen Haltung ab.
- Althusser, Louis (1977). Ideologie und ideologische Staatsapparate. Hamburg: VSA.
- Austin, John (1972). Zur Theorie der Sprechakte. Stuttgart: Reclam.
- Butler, Judith (2006). Haß spricht. Zur Politik des Performativen (Edition Suhrkamp, Bd. 2414). Frankfurt am Main: Suhrkamp.
- Butler, Judith (2019). Psyche der Macht: das Subjekt der Unterwerfung (Deutsche Erstausgabe, 10. Auflage ed.). Frankfurt am Main: Suhrkamp.
- Foucault, Michel (1977/2016). Der Wille zum Wissen. Aus dem Französischen von Ulrich Raulff und Walter Seitter. Frankfurt am Main: Suhrkamp. S. 1023–1151.
- Posselt, GeraId (2019). Sprache und Gewalt im Kontext von Flucht, Migration und Geschlecht. In: Pädagogik sprechen. Die sprachliche Reproduktion gewaltvoller Ordnungen in der Migrationsgesellschaft. Heinemann, Alisha M. B. & Khakpour, Natascha (Hg.). Stuttgart: Springer. S. 11-34.
- Rose, Nadine (2010). Differenz-Bildung. Zur Inszenierung von Migrationsanderen im schulischen Kontext. In: Rassismus bildet: bildungswissenschaftliche Beiträge zu Normalisierung und Subjektivierung in der Migrationsgesellschaft. Broden, Anne & Mecheril, Paul (Hg.). Bielefeld: transcript. S 209-234.
- Heinemann, Alisha M. B.; Dirim, İnci (2016). „Die sprechen bestimmt (schlecht) über mich“ – Sprache als ordnendes Prinzip im Bildungssystem. In: Symbolische Ordnung und Bildungsungleichheit in der Migrationsgesellschaft. Emre Arslan & Kemal Bozay (Hg.). Berlin, Heidelberg: Springer Science and Business Media; Springer VS, S. 199–214.
- Heinemann, Alisha M. B.; Khakpour, Natascha (Hg.) (2019). Pädagogik sprechen. Die sprachliche Reproduktion gewaltvoller Ordnungen in der Migrationsgesellschaft. Stuttgart: Springer Verlag.
- Hornscheidt, Lann (2011). Schimpfwörter – Beschimpfungen – Pejorisierungen. Wie in Sprache Macht und Identitäten verhandelt werden, (Hg.). Antje Lann Hornscheidt. Frankfurt
- Hornscheidt, Lann. Blog zu Gender Studies und SprachHandeln, https://www.lannhornscheidt.com.
- Kleiner, Bettina/ Rose, Nadine (2014). (Re-) Produktion von Ungleichheiten im Schulalltag. Judith Butlers Konzept der Subjektivation in der erziehungswissenschaftlichen Forschung. Opladen: Barbara Budrich.
- Müller, Anna-Lisa (2009). Sprache, Subjekt und Macht bei Judith Butler. Marburg: Tectum.
- Rose, Nadine (2015). Performative (An-) Sprache. Zur Herstellung von Differenz in Anrufungsprozessen. In: Heterogenitätsforschung. Empirische und theoretische Perspektiven. Budde, Jürgen/ Blasse, Nina/ Bossen, Andrea/ Rißler, Georg (Hg.). Weinheim, Basel: Belt., S. 193-209.
- Wrana, Daniel (2006). Das Subjekt schreiben. Subjektkonstitution und reflexive Praktiken in der Weiterbildung – eine Diskursanalyse. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren.
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